Work-Life-Balance Wie viel Arbeit macht glücklich?
Ein gesundes Gleichgewicht von Arbeit und Privatleben gilt als Idealzustand - doch die Realität ist oft eine andere: Viele würden gerne weniger arbeiten. Die Hälfte der Deutschen fühlt sich vom Burnout bedroht. Wieso?
Dienstbeginn um 6.00 Uhr - Sandra Eisert ist seit halb fünf wach. So wie jeden Arbeitstag. "Das geht auf die Knochen, man kann auch abends nicht mehr wirklich was unternehmen, weil man ja früh ins Bett muss." Die 52-Jährige ist Altenpflegefachkraft, 35 Bewohnerinnen und Bewohner werden von ihr im Evangelischen Altenhilfezentrum Bad Wildungen versorgt. Sie arbeitet wirklich gerne. Und trotzdem hat sie das Gefühl, es bleibt zu viel Leben auf der Strecke: Zu wenig Zeit für ihre Kinder, das Heim, für ihren Mann - für sich selbst. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist oft ein Spagat.
Wunsch und Wirklichkeit beim Arbeitspensum
Dem Statistischen Bundesamt zufolge arbeiten Erwerbstätige hierzulande im Durchschnitt 34,8 Stunden pro Woche. Im EU-Vergleich gehört Deutschland zu den Ländern mit den wenigsten Arbeitsstunden pro Woche und liegt damit an drittletzter Stelle. Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung würden die Beschäftigten im Durchschnitt gerne weniger arbeiten.
Allerdings klaffe zwischen Wunsch und Wirklichkeit mit Blick auf die Arbeitszeiten eine große Lücke zwischen den Geschlechtern, so Manuela Barišić, die die Studie betreut hat. Im Schnitt arbeiten Männer 41 Stunden pro Woche - neun Stunden mehr als Frauen. Wenn man aber genauer hinschaue, so die Studie, sagten deutlich mehr Männer, sie arbeiteten zu viel - und gleichzeitig würden mehr Frauen als Männer gerne mehr arbeiten.
Es bestehe also viel Potenzial zur Angleichung von Arbeitszeiten, so Barišić. Vor allem viele Mütter können nicht so arbeiten, wie sie es gerne möchten. Der Grund dafür seien nicht die Kinder an sich, sondern der Mangel an Betreuungsmöglichkeiten oder die zu hohen Kosten dafür.
Wann macht Arbeit glücklich?
Wie viel Arbeit glücklich mache, dafür gebe es keinen Maßstab, sagt Kerstin Jürgens, Professorin an der Universität Kassel. Die Soziologin ist Expertin für Veränderungen in der Arbeitswelt. Je nachdem welche Lebensvorstellungen und -entwürfe wir haben, wie unser individuelles Leistungsvermögen sei, ob wir neben der Erwerbsarbeit noch Pflege- oder Sorgearbeit leisten, sei die Frage ganz unterschiedlich zu beantworten.
Allerdings gebe es verschiedene Faktoren, von denen es abhänge, wie zufrieden wir im Job sind. Die Arbeitszeitforschung zeige: Die Frage der Souveränität über die zeitliche Gestaltung hat einen großen Stellenwert. Wichtig auch der Aspekt, ob man den Ort, an dem man arbeitet, selbst bestimmen kann. Das habe sich durch die Pandemie noch einmal verstärkt, so Jürgens. Allein die Möglichkeit freier Entscheidungen werde als Wertschätzung der eigenen Leistung erlebt. "Interessanterweise auch bei denen, die sie gar nicht nutzen."
Wertschätzung als entscheidender Faktor
Überhaupt beeinflusst Wertschätzung das Glücksempfinden stark. Das kann die Anerkennung des Vorgesetzten sein - man leistet etwas im Team; der Job wie beispielsweise die Arbeit in der Pflege ist in der Gesellschaft hoch geachtet. Oder das Produkt, das man produziert, genießt Wertschätzung - wie zum Beispiel das Auto.
"Wir sind bedürftig, von unseren Mitmenschen eine Rückmeldung zu bekommen. Und da ist Arbeit und die Arbeitswelt sehr gut geeignet", so Soziologin Jürgens. Weitere Glücksfaktoren sind die Höhe des Einkommens und die Sicherheit des Arbeitsplatzes, aber auch, wie sinnstiftend die Arbeit erlebt wird.
Die Beziehung zu den Bewohnern ist für Sandra Eisert beispielsweise wertvoller als viel Geld. Sie ist gerade bei Herrn Thiele. Er hat bis vor kurzem noch sämtliche Mahlzeiten über eine Magensonde bekommen und lernt gerade wieder das Essen. Heute versucht er es selbst - und es klappt. Sandra Eisert freut sich; solche Momente sind es, die sie erfüllen. Trotzdem fühlt sie sich häufig gestresst, denn eine Pause hatte sie heute nicht.
Work-Life-Balance nur für Besserverdiener?
Sandra Eisert hat eine Dreiviertelstelle, noch weniger arbeiten ginge nicht, sagt sie. "Wenn ich nicht arbeiten würde, würde das Geld nicht reichen, ich habe das Glück, dass mein Mann etwas besser verdient als ich. Aber ich habe Kollegen, die haben eine volle Stelle, auch Kinder und noch Nebenjobs, sonst reicht das Geld nicht."
Die Einkommensfrage sei in puncto Work-Life-Balance mitentscheidend, sagt Soziologin Jürgens. Laut Statistischem Bundesamt arbeitet gut jeder und jede fünfte abhängig Beschäftigte in Deutschland im Niedriglohnsektor.
"Das sind alles Menschen, die sich in einer schwierigen Lebenslage befinden und die tatsächlich ein bestimmtes Stundenpensum leisten müssen, um ihre Existenz zu sichern - egal wie belastend es ist." Über Work-Life-Balance, Auszeiten oder Sabbaticals nachdenken zu können - auch ein Privileg. Viele haben schlicht nicht die Wahl.