Ausfall vieler Kraftwerke Frankreichs Atomstrom-Pläne in Gefahr
Frankreich ist weniger vom russischem Gas abhängig als Deutschland - dank der 56 Atomreaktoren. Weil aber mehr als die Hälfte davon still steht und Russland als Kunde wegbricht, steht Frankreichs Atomindustrie unter Druck.
Eine "Renaissance der Atomenergie" hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron noch im Februar versprochen. Sechs neue Druckwasser-Reaktoren will er bauen lassen. Mehr Strom, mehr Unabhängigkeit, mehr Innovation - Macron setzt voll auf die Kernkraft-Karte, um Frankreichs Industrie nach vorne zu bringen.
Korrosion bringt die Pläne ins Stocken
Doch diese ambitionierten Pläne erfahren gerade einen empfindlichen Dämpfer: Von 56 Reaktoren stehen 29 still. Es gibt ein doppeltes Problem: Der Meilerpark des Staatskonzerns EDF ist in die Jahre gekommen. Viele Reaktoren sind wegen Regelwartungen abgeschaltet. Doch nun müssen ausgerechnet zwölf der jüngeren Baureihe zusätzlich vom Netz.
Der Grund ist ein Korrosionsproblem, mit dem niemand gerechnet hat. "Zum jetzigen Zeitpunkt erlauben die Kontrollen noch keine Aussage darüber, wie groß die Risse in den Kühlröhren sind. Dazu müssen die Reaktoren stillgelegt werden", sagt Bernard Doroszczuk, Berichterstatter der Nuklearen Sicherheitsbehörde.
Anteil des Atomstroms ungeplant auf Tiefpunkt
Im April waren nur zwischen 37 Prozent und 54 Prozent der installierten atomaren Gesamtkapazität in Betrieb. Europas größter Atomstromanbieter Electricité de France schätzt die Mindereinnahmen des Konzerns für das Jahr 2022 derzeit auf 18,5 Milliarden Euro. Schon jetzt ist absehbar, dass im Winter Strom-Engpässe drohen.
Doch eine schnelle Lösung der technischen Probleme ist nicht in Sicht. Denn es fehlt an Fachkräften. "Ganz grundsätzlich schätzt EDF, dass es bis 2026 einen sechsfach gesteigerten Bedarf an Fachpersonal geben wird. Vor allem was das Maschinelle angeht: also Pumpen, das Rohrnetz, und es fehlen Schweißer - das treibt alle um", sagt Jean-Luc Lachaume von der Sicherheitsbehörde. "Und in dieser Rechnung ist der angekündigte Neubau von Reaktoren noch gar nicht enthalten. Und auch nicht der Bedarf, der jetzt durch diese unvorhergesehen Korrosionsprobleme entstanden ist."
Statt Renaissance also erstmal Rénovation. Sicherheitsprüfer Doroszczuk fordert daher einen Marshall-Plan. "Industrie und Staat müssen sich da jetzt reinhängen", fordert er. "Sonst sind die angekündigten Ziele nicht haltbar. Und das wäre das allerschlimmste für die Glaubwürdigkeit des gesamten Industrie-Programms."
Russland war bisher wichtigster Kunde
Zu all diesen Problemen kommt jetzt auch noch der Krieg in der Ukraine. Russland war bis dato der wichtigste Kunde der französischen Atom-Branche. Mycle Schneider, der Herausgeber des World Nuclear Industry Status Report, sieht die Posten in den Auftragsbüchern schwinden. International sei Russland "der entscheidende, aggressivste Promoter" des Neubaus von Atomkraftwerken gewesen. Und nun sei plötzlich dieser Engpass entstanden. "In Finnland ist bereits ein Projekt offiziell annulliert worden für ein russisches Atomkraftwerk - und für dieses AKW sollten aus Frankreich Turbinen geliefert werden", sagt Schneider.
Eigentlich plante man im französischen Wirtschaftsministerium sogar, den russischen Konzern Rosatom mit 20 Prozent an dem heimischen Turbinenhersteller in Belfort zu beteiligen. Doch dieser Plan könnte nun auf Eis gelegt werden. Frankreich wähnte sich mit seiner Atom-Strategie im Aufwind. Doch die Pläne sind ins Trudeln geraten.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieser Meldung hieß es, dass Frankreichs Atomkraftwerke im April statt rund 70 Prozent nur 37 Prozent des Strombedarfs lieferten. Das ist falsch und wurde korrigiert.