Lieferdienst in Gaza-Stadt Wie "Torood" Krieg und Krise trotzt
Der Alltag in Gaza-Stadt ist seit Jahrzehnten gezeichnet vom Nahostkonflikt. Ein Unternehmer hat sich aller widrigen Umstände zum Trotz mit einem Lieferdienst-Start-up selbstständig gemacht - mit Erfolg.
An der Kreuzung Al Zogag Wa Al Ramla in Gaza-Stadt, der Hauptstadt im Gazastreifen, herrscht Verkehrschaos. Es gibt keine funktionierenden Ampeln. Autos bremsen, beschleunigen, schrammen aneinander vorbei, irgendwie geht es voran. Ein Mann springt aus einem Auto und läuft in ein Gebäude. Ibrahim Adria hat es eilig, er arbeitet als Fahrer für den Lieferdienst "Torood", was soviel wie "Paket" heißt. Es ist das einzige Tech-Start-up in Gaza, das - per App gesteuert - Pakete ausliefert.
"Frieden und Ruhe sind besser für unser Geschäft"
"Die Arbeit ist viel besser als andere Jobs in Gaza. Davor war ich Taxifahrer, aber jetzt verdiene ich mehr für mich und meine Frau", erzählt Ibrahim. Er hat Soziologie studiert, aber keine Arbeit gefunden. Seit vier Monaten liefert er Pakete für das Start-up aus, das sich vor drei Jahren gegründet hat. Die App "Torood" zeigt Fahrer und Kunde an, wo sich bestellte Ware befindet, wo sie im Gazastreifen hin muss und wann sie ankommt.
Gezahlt wird per E-Wallet im Internet. Die App berechnet den Lieferweg so, dass möglichst viele Pakete in kürzester Zeit ankommen - vorausgesetzt es gibt keinen Luftangriff. "Wenn die Angriffe beginnen, schaffen wir es meist noch nach Hause. Wenn hier Krieg ist und die Raketen fliegen, ist es für unsere Fahrer zu gefährlich. Dann bricht der Lieferdienst zusammen", sagt der Leiter der Entwicklungsabteilung, Mahmoud Abushawish. "Wir wollen niemanden verlieren. Frieden und Ruhe sind besser für unser Geschäft."
Gründung mitten im Krieg
Im Gazastreifen sei man an Krisen gewöhnt und daher risikofreudiger, sagt "Torood"-Gründer Ezz Alakhras. Der junge Mann im schwarzen Businessanzug holt sein Handy heraus. Er zeigt Bilder nach einem Raketenangriff im Mai 2021, den das Haus seines Nachbarn getroffen und auch sein Haus beschädigt hat. Frau und Tochter flüchteten zu den Eltern aufs Land, er selbst habe im Keller seiner frisch gegründeten Firma geschlafen.
"Bei uns zu Hause lagen überall Splitter auf dem Wohnzimmerboden. Die Scheiben waren kaputt und die Möbel", erinnert sich Alakhras. "Es gab einen Angriff in der Nachbarstraße. Sehr nahe. Es war schwierig, weil wir in der Gründungsphase Krieg hatten, aber in jedem Problem sehe ich eine Chance."
Der Gründer des Lieferdienstes "Torood", Ezz Alakhras, im Lagerraum des Start-ups in Gaza-Stadt
Rasantes Wachstum unter widrigen Umständen
Im Lagerraum im Untergeschoss, der auch als Bunker bei Luftangriffen dient, nehmen die Fahrer vorsortierte Plastiktüten mit Päckchen aus Metallregalen, scannen sie per Barcode-Scanner ein und schieben die Bestellungen in Einkaufswagen zu ihren Autos. Darunter sind Kleidung, Schuhe, Kosmetik, Küchengeräte und Spielzeug.
"90 Prozent der Leute, die in Gaza im Internet bestellen, sind Frauen, weil die sich zu Hause um die Familie kümmern", sagt Alakhras, und verweist auf die rasanten Zuwächse seines Unternehmens: "Unsere Wachstumsrate beträgt 70 Prozent. Vor einem Jahr haben wir pro Monat 10.000 Pakete ausgeliefert, jetzt sind es bis 20.000 Pakete im Monat."
Während der Corona-Pandemie habe das Start-up profitiert, weil auch in Gaza die meisten Menschen anfingen, im Internet zu bestellen, so Alakhras. In kurzer Zeit wuchs das Unternehmen - aus zweien wurden 13 Festangestellte und 40 Auftragsfahrer. Insgesamt lebten etwa 100 Familien von dem Geschäft mit den Paketen, sagt Alakhras stolz. Er glaubt fest daran, dass trotz aller Widrigkeiten in Gaza der Bereich E-Commerce weiter wachsen wird. Er habe seine gesamten Ersparnisse - etwa 10.000 US-Dollar - in sein Start-up gesteckt, anstatt ein Haus für seine Familie zu kaufen.
"Welchen politischen Einfluss haben Schuhe?"
Die größte Herausforderung für das kleine Unternehmen seien die israelischen Behörden, sagt Alakhras. "Wenn es politische Probleme gibt oder die Gewalt eskaliert, werden die Grenzübergänge geschlossen, wo unsere Waren rüberkommen", sagt er. Dann kämen sie gar nicht oder verspätet an, und das schade dem Geschäft. Für Alakhras ist "Torood" unpolitisch: "Ich frage mich, welchen politischen Einfluss haben zum Beispiel Schuhe, die bestellt werden?"
Seit die radikalislamische Hamas im Gazastreifen regiert, hat Israel die Wareneinfuhr nach Gaza stark eingeschränkt. Viele Güter dürfen nicht importiert werden - vor allem dann nicht, wenn sie für den Bau von Waffen verwendet werden können.
Eine weitere Herausforderung sind Stromausfälle. Oft gibt es nur sechs Stunden Strom am Tag. Dann muss Alakhras Strom aus Generatoren kaufen, der achtmal so teuer ist wie normal. Unter solchen Umständen Investoren zu finden, sei schwer; seit drei Jahren sei er auf der Suche. Nun könnte es zum ersten Mal mit einem Investor aus der Türkei klappen, der ihm helfen will, dort Fuß zu fassen.