Rumänien und die Ukraine Nachbarschaftshilfe beim Weizenhandel
Die Ukraine war vor dem Krieg einer der weltweit größten Weizenproduzenten. Seit Kriegsausbruch ist der Export eingebrochen. Rumänien will seinem Nachbarland helfen.
Je nach Sichtweise sind 85 Millimeter wenig, viel oder - wie im Fall der ukrainischen Weizenexporte - viel zu viel. Warum das so ist, kann Hansjörg Küster sehr gut erklären. Küster ist Professor für Pflanzenökologie am Institut für Geobotanik an der Leibniz-Universität Hannover und Spezialist für Getreide - egal, ob es um dessen Anbau, Lagerung oder Transport geht.
Häfen von Odessa und Mariupol fallen aus
Der Anbau ist gerade eines der vielen Probleme in der Ukraine: Felder liegen brach, sind vermint, werden zerstört. Bei der Lagerung sieht es kaum besser aus. Der Getreide-Prozess ist laut Küster so getaktet, dass "täglich ein gewisser Vorratsteil" entnommen und dann an den Ort gebracht wird, an dem das Getreide weiterverarbeitet und gebraucht wird - was derzeit nicht möglich ist, weil der Transport über den direkten Seeweg aus Odessa, Mariupol und anderen wichtigen ukrainischen Häfen versperrt ist. "Sie können die ukrainischen Häfen zurzeit nicht gefahrenfrei nutzen", sagte Küster im Gespräch mit der ARD. "Die werden unablässig bombardiert - oder es besteht die Gefahr, dass es zu Bombardements kommt."
Die Spurweite als Problem
Doch könnte der Weizen nicht über den Landweg per Zug nach Rumänien gebracht und dort verschifft werden? Theoretisch ja. In der Praxis sind die bereits erwähnten 85 Millimeter bisher ein enormes Hindernis.
Der Hintergrund ist, dass Eisenbahnschienen auf der Welt verschiedene Spurweiten haben. "Es gibt eine Breitspurbahn in der Ukraine", erklärt Küster, "und es gibt eine Normalspur in Europa." In Zahlen: In Rumänien liegen wie in Deutschland und den meisten anderen europäischen Ländern die Innenkanten der Gleis-Schienenköpfe 1435 Millimeter auseinander - in der Ukraine sind es dagegen 1520 Millimeter, Standardmaß der früheren Sowjetunion, auf dem in deren Nachfolgestaaten noch heute gefahren wird.
Die System-Differenz ist nun ein Grund dafür, dass die Züge mit den Gütern aus dem Kriegsland Ukraine - wenn sie denn bis zur Grenze kommen - nicht einfach weiterfahren können nach Moldau und noch weiter, nach Rumänien ans Meer. "Man müsste eben die Güterwagen umspuren an der Grenze. Man bräuchte neue Güterwagen. Man müsste es wahrscheinblich auch umladen. Und ein Transport auf der Straße ist unglaublich aufwendig und teuer", sagt Agrarexperte Küster.
Dabei sind allen voran die ärmeren Länder in Afrika und dem Nahen Osten angewiesen auf das vergleichsweise günstige Korn der Ukraine. Westafrika, Horn von Afrika, Sahelzone: Schon jetzt fehlt der ukrainische Weizen, die Preise sind zuletzt stark gestiegen, die Knappheit befeuert die realen Risiken großer Hungersnöte; der in Deutschland und in Westeuropa angebaute Weizen ist kein passender Ersatz, weil zu teuer für Länder wie Marokko, Ägypten oder Algerien.
Eine einfache Lösung gibt es laut Fachmann Küster nicht. Wegen der schieren Produktmengen fällt neben dem Lkw auch das Flugzeug als alternatives Transportmittel weitgehend aus. Den ukrainischen Weizen mit der Bahn ohne Spurwechsel anderswohin zu bringen, geht auch nicht. Es gebe keine anderen nahegelegenen Häfen, sagt Fachmann Küster. Und die baltischen Länder oder Finnland seien, obwohl ebenfalls mit der ukrainischen Spurweite ausgestattet, nur über Transit durch Russland oder Belarus zu erreichen - also de facto derzeit gar nicht.
Bewegung in Bukarest
Zu guter Letzt belegt der Blick auf die Weltkarte und die Liste der Hauptabnehmer: Die einzigen sinnvollen Routen für Getreide aus der Ukraine führen über das Schwarze Meer. Deshalb also doch Rumänien. Und dort ist der Wille nun da.
In dieser Woche haben sich Regierungsvertreter und Verkehrsexperten Rumäniens, der Republik Moldau und der Ukraine mit EU-Verkehrskommissarin Adina Vălean in Bukarest getroffen, um zu besprechen, wie die Straßen-, Schienen- und Hafeninfrastruktur im Dreiländereck verbessert werden kann. Auch unter dem Gesichtspunkt der - wie es in von der rumänischen Regierung hieß - "Ernährungssicherheit von Drittländern", zum Beispiel in Afrika.
EU-Kommissarin Vălean, eine Rumänin, sagte bei dem Treffen: Die Exporte aus der Ukraine, aber auch die aus der Republik Moldau würden die europäische Ebene zurzeit beschäftigen. Beide Länder seien große Agrarproduzenten, und Rumänien könne ihnen mit neuen Transportwegen helfen. Namentlich nannte Vălean die Flusshäfen Galați und Sulina im Dreiländereck sowie den Schwarzmeerhafen von Constanta, die allesamt "als Tore zum Schwarzen Meer dienen könnten".
Der Sulina-Kanal sei für große Schiffe befahrbar; zwischen dem Hafen von Constanta und kleineren, noch unbesetzten Häfen in der Ukraine könne ein Shuttle-System aufgebaut werden; und schließlich gebe es ja noch die Eisenbahnlinie nach Galați, die sogar über eine ukrainische Spurweite bis hin zum dortigen Hafen verfügt. Und so wäre es "sehr einfach", sagte die EU-Kommissarin, Produkte aus der Ukraine ins rumänische Galați zu bringen.
Straßengüterverkehr wird liberalisiert
Doch noch ist die Realität eine andere. Viktor Karii, ein Getreidehändler aus dem ukrainischen Odessa, klagte im rumänischen Sender Pro TV, Rumäniens Eisenbahn sei am Grenzübergang in einem schlechten Zustand. Die Gleise nach Galați seien seit Jahren kaputt. Die ukrainischen Händler hätten ihrerseits sogar Finanzierungshilfe angeboten, um die Strecke rasch fit zu bekommen.
Rumäniens Verkehrsminister Sorin Grindeanu versprach nun, dass die kurze, aber wegen ihrer Spurweite wichtige Strecke nach Galați in den nächsten 100 Tagen saniert werde. So sollen der direkte Zugang für Züge aus der Ukraine und aus Moldau erleichtert und die Umschlagszeiten für Güter verkürzt werden. Der Staatssekretär im Verkehrsministerium Ionel Scrioșteanu nannte als Ziel, die Strecke nach Galați so "schnell wie möglich" in Betrieb zu nehmen. Weiter südlich in Constanta wurden und werden außerdem Dutzende alte Eisenbahnwaggons entfernt, die lange Zeit die Schienen im dortigen Hafen blockierten.
Ein weiteres Ergebnis des Treffens von Bukarest in dieser Woche lautet: Der Güterverkehr auf der Straße zwischen den drei Nachbarländern wird liberalisiert, das soll den Warentransport ebenfalls verbessern. Außerdem arbeitet eine Taskforce an Verkehrskonzepten, von der alle drei Länder profitieren sollen.
Selenskyi deutet Zusammenarbeit beim Wiederaufbau an
Das wäre dann auch ein Gewinn für Rumänien, eines der ärmsten Länder der EU, das inzwischen Zehntausende Kriegsflüchtlinge versorgen und als NATO-Mitglied militärischen Verpflichtungen nachkommen muss.
Die Brüsseler Kommissarin Vălean hofft, dass die Infrastruktur des Landes bald einen "bedeutenden Qualitätssprung" machen und von der neuen Handelsroute auch nach dem Krieg profitieren wird. Dann gibt es außerdem die Aussicht, bei einem Wiederaufbau der Ukraine - falls Russland den Krieg verliert - eine wichtige Rolle zu spielen. Das hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi dem Nachbarstaat und rumänischen Firmen in Aussicht gestellt. Rumäniens Verteidigungsminister Vasile Dîncu äußerte sich bei Radio România Actualități zuversichtlich: "Es gibt alle Voraussetzungen, um von nun an einen sehr guten Nachbarn zu haben, mit dem wir einen wirtschaftlichen Austausch pflegen können."
Agrarexperte Küster tritt allerdings auf die Bremse. Es werde in jedem Fall sehr teuer, den ukrainischen Weizen außerhalb des Landes zu verschiffen. Küster sagt mit Verweis auf die vollen Lager in der Ukraine aber auch: Die Zeit dränge, jeder Tag zähle.