Mitglieder-Gewinnung Wie Gewerkschaften um junge Menschen werben
Die "Generation Z" der unter 30-Jährigen will weniger arbeiten und gute Löhne. Eigentlich gute Vorzeichen für Gewerkschaften. Die werben offensiv um junge Menschen - und stehen vor vielen Fragezeichen.
Eine ungewöhnliche Pause in der Heinrich-Kleyer-Berufsschule in Frankfurt: Pünktlich um 9 Uhr stehen vor dem Pausenhof zwei junge Gewerkschafts-Aktivistinnen und verteilen energisch Flyer. Mit dem Ruf nach "Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit" versuchen sie, die Auszubildenden für den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) zu gewinnen. Am 1. Mai könnten sie gleich mit ihnen gemeinsam auf die Straße gehen und für bessere Arbeitsbedingungen demonstrieren.
"Man hört ja oft von Gewerkschaften, aber ich glaube nicht wirklich, dass sie meine Arbeitsbedingungen verbessern können", sagt ein Auszubildender während der Verteilaktion. Eine junge Frau sagt: "Ich finde solche Aktionen schon gut, weil man in der Schule zwar mal die Basics über Gewerkschaften hört, aber ich so merke, wie mir konkret geholfen werden kann."
Für die DGB-Jugendvertreterin Meike Reicharts ist es unerlässlich, aktiv auf junge Leute zuzugehen. "Wir wollen ihnen zeigen, dass sie nicht allein sind, sondern, dass wir gemeinsam für ihre Rechte kämpfen können", sagt die DGB-Jugendvertreterin Meike Reichartz gegenüber tagesschau.de. "Viele wissen nicht, dass sie bei einer Mitgliedschaft nicht nur Teil einer Organisation werden, sondern auch direkt Einfluss auf ihre Arbeitsbedingungen nehmen können."
Mitgliederzuwachs bei Gewerkschaften
Der DGB umfasst knapp sechs Millionen Gewerkschaftsmitglieder. Diese verteilen sich auf acht Gewerkschaften, die alle Branchen und Wirtschaftsbereiche in Deutschland abdecken. Bei vielen Gewerkschaften steigen die Mitgliederzahlen.
Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di hat nach eigenen Angaben "das bislang erfolgreichste Jahr" seit ihrer Gründung 2001 hinter sich. Rund 190.000 neue Mitglieder seien 2023 geworben worden, sagte ver.di-Sprecher Jan Jurczyk tagesschau.de.
Die Zahl der Mitglieder stieg auf knapp 1,9 Millionen. Ver.di ist damit hinter der IG Metall die zweitgrößte Gewerkschaft in Deutschland. Letztere verzeichnet nach Angaben eines Sprechers bei den Neuaufnahmen so viel Zulauf wie seit langem nicht mehr. Im vergangenen Jahr gab es rund 129.000 Eintritte.
"Die Tarifabschlüsse sind zumeist besser, auch die Rekrutierung verläuft erfolgreicher, weil die Leute selbstbewusster geworden sind", so Jurczyk. Nach Einschätzung des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln ist die Strategie speziell der Dienstleistungsgewerkschaft "das Organisieren am Konflikt. Durch harte Tarifauseinandersetzungen sollen Mitglieder gewonnen werden."
Demografischer Wandel als Herausforderung
Allerdings verlassen gleichzeitig viele Mitglieder die Gewerkschaften - rund 150.000 Menschen waren es bei ver.di im vergangenen Jahr. Wie bei anderen Institutionen macht sich auch hier der demografische Wandel bemerkbar. Vielen Menschen sind in den 1970er- oder 1980er-Jahren eingetreten, waren fast ihr ganzes Arbeitsleben in der Gewerkschaft organisiert und gehen nun bald in Rente.
So stellt sich die Frage: Wie viele junge Menschen rücken nach, wenn die sogenannte "Babyboomer"-Generation in Rente geht und damit dann auch ihre Gewerkschafts-Mitgliedschaft kündigt.
Mitglieder kommen und gehen schneller
Die Art der Mitgliedschaft habe sich bereits verändert, so ver.di-Sprecher Jurczyk. Früher blieben Mitglieder oft jahrzehntelang, während heute viele nur für ein oder zwei Jahre einträten, um spezifische Probleme zu lösen, etwa die Gründung eines Betriebsrates. Dann träten manche wieder aus.
Jurczyk fasst das so zusammen: "Die Leute kommen leichter rein, sie treten aber auch leichter wieder aus." Trotz Vorurteilen in der Gesellschaft über die Arbeitsmoral der "Generation Z" beobachteten Gewerkschaften wie ver.di aber keine Abnahme des Engagements bei jungen Menschen, im Gegenteil: "Die sind wach, aufmerksam, streitbar und fleißig."
Ver.di sei überzeugt, dass der Fachkräftemangel, die Tendenz zu mehr Engagement, aber auch die Inflation und steigende Mieten Menschen auch in Zukunft motivierten, in Gewerkschaften einzutreten. Viele hätten weniger Angst vor einem möglichen Arbeitsplatzverlust, sie seien weniger abgeschreckt und engagierten sich somit mehr.
Stärkerer Fokus auf junge Menschen
Ob der Mitgliederzuwachs bei ver.di zu einem langfristigen Trend wird, bleibt aber ungewiss. Auch bei der IG Metall weiß man: "Der Fachkräftemangel stärkt grundsätzlich die Position der Beschäftigten, ist für Gewerkschaften aber kein Selbstläufer", so ein Sprecher. Es gehe weiterhin darum, die Menschen in den Betrieben systematisch anzusprechen und sie von einer Mitgliedschaft zu überzeugen.
Dabei wird von vielen Gewerkschaften versucht, verstärkt jüngere Menschen anzusprechen, sei es über Social Media und Flyer oder an Berufsschulen, Pflegeschulen oder Universitäten. Allein ver.di konnte im vergangenen Jahr nach eigenen Angaben etwa 50.000 neue Mitglieder zwischen 18 und 29 Jahren gewinnen.
Dabei gibt es unterschiedliche Strategien. Die Chemiegewerkschaft IG BCE beispielsweise stehe "für kooperative Verhandlungen", urteilt das IW Köln. Sie versuche durch sogenannte Bonusregelungen für Gewerkschaftsmitglieder neue Mitglieder gewinnen. "Das ist schwierig, weil die Arbeitgeber dem oft skeptisch gegenüberstehen."
Tarifbindung ist gesunken
Um für die Zukunft gerüstet zu sein, müssten Gewerkschaften eng mit Betriebsräten vernetzt sein und darüber einen Zugang zum Betrieb bekommen, heißt es vom IW Köln. Allerdings zeige sich auch, dass es zum Teil gar keinen Bedarf für Gewerkschaften gebe. "In vielen Betrieben ist das Betriebsklima gut, die Arbeitsbedingungen werden als fair empfunden und innerbetriebliche Konflikte werden einvernehmlich zwischen Geschäftsleitungen und Belegschaften gelöst."
Für wenig zielführend halte man beim IW Köln die Bestrebungen der Gewerkschaften, staatliche Unterstützung bei der Stärkung der Tarifbindung einzufordern. "Mehr allgemeinverbindliche Tarifverträge vermindern eher den Anreiz, Gewerkschaftsmitglied zu werden, anstatt ihn zu erhöhen."
Hintergrund sind Forderungen, dass die Politik per Gesetz eine größere Verbindlichkeit von Tarifverträgen schafft - auch um die noch bestehenden Lohnunterschiede zwischen Ost und West zu verringern. "Tatsächlich ist die Tarifbindung aber nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch in Westdeutschland verhältnismäßig gering", schreibt das Münchner ifo-Institut dazu. Wolle man die Tarifbindung erhöhen, müsse man vor allem die Anreize erhöhen, beispielsweise durch stärkere Berücksichtigung von Unterschieden in der Leistungsfähigkeit ostdeutscher Betriebe in den Tarifverträgen, so das ifo.
Die beiden DGB-Gewerkschafterinnen in Frankfurt zeigen sich nach ihrer halbstündigen Verteilaktion zufrieden. Die meisten hätten die Flyer angenommen, es hätten sich auch interessante Gespräche ergeben.
"Je früher junge Menschen wissen, welche Rechte sie haben und wie sie sich für diese einsetzen können, desto besser sind sie in der Lage, sich auf der Arbeit zu behaupten, ohne sich vom Chef einschüchtern zu lassen oder alles hinzunehmen", sagt eine Jugendvertreterin des Gewerkschaftsbunds.
Zumindest zum Nachdenken haben sie einige der Schüler gebracht: "Es hat mir nochmal bewusst gemacht, dass man mehr Macht hat, wenn man sich organisiert und zusammentut für eine Sache", sagte einer. Wenn es um ganz bestimmte Anliegen bei der Arbeit gehe, könne er sich den Eintritt in eine Gewerkschaft vorstellen. "Wenn ich mich aber grundlegend unzufrieden fühle, wäre mein erster Gedanke, den Job zu wechseln."