Schutz vor Infektionskrankheiten Das Phänomen Impfmüdigkeit
Warum lassen sich Menschen nicht impfen, obwohl der medizinische Nutzen von Impfungen erwiesen ist? Forschende befassen sich mit dem Thema Impfmüdigkeit nicht erst seit der Corona-Pandemie.
Zurzeit häufen sich die Aufrufe von Ärzteverbänden und Gesundheitspolitikerinnen und -politikern, sich impfen zu lassen, gegen Corona, gegen Grippe. Die Infektionszahlen steigen an, doch nur wenige Menschen nehmen die Impfangebote wahr. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, führt das auf den "enormen öffentlichen Druck" der Corona-Pandemiezeit zurück. Er sagt, viele Menschen seien verständlicherweise "impfmüde".
Eines der größten Gesundheitsrisiken
Doch liegt diese "Impfmüdigkeit" tatsächlich an der rigorosen Gesundheitspolitik der vergangenen Jahre? Oder ist sie nicht eher ein schon älteres Phänomen? Bereits 2019, also noch vor der Corona-Pandemie, warnte die Weltgesundheitsorganisation WHO, dass mangelnde Impfbereitschaft zu den größten Gesundheitsrisiken auf der Welt gehöre. Fortschritte bei der Bekämpfung von Krankheiten, die durch Impfen vermeidbar wären, drohten zunichte gemacht zu werden.
Die WHO nennt als Beispiel die Masern, die bereits kurz vor der Ausrottung gestanden hätten. In Deutschland ging die Zahl der Erkrankten in den vergangenen Jahren zurück, vermutlich auch durch die Schutzmaßnahmen während der Corona-Pandemie - die Masern werden, wie Covid-19, durch Tröpfchen und Aerosole übertragen. Weltweit stieg zu Beginn des Jahres 2022 die Zahl der Infektionen aber wieder .
Das 5C-Modell
Um Impfmüdigkeit zu erklären, gibt es verschiedene Modelle. Definiert wird sie als Verzögerung oder Ablehnung von Impfungen trotz Verfügbarkeit von Impfangeboten. Als das umfassendste wird das 5C-Modell angesehen. Es beschreibt als wesentliche psychologische Gründe der Impfentscheidung folgende Aspekte und kann sie messbar machen:
Confidence (Vertrauen) beschreibt das Ausmaß an Vertrauen in die Effektivität und Sicherheit von Impfungen, das Gesundheitssystem und die Motive der Entscheidungsträger. In einer Umfrage würde auf einer siebenstufigen Skala eine Aussage bewertet werden wie: "Ich habe vollstes Vertrauen in die Sicherheit von Impfungen."
Complacency (Risikowahrnehmung) beschreibt die Wahrnehmung von Krankheitsrisiken und ob Impfungen als notwendig angesehen werden. Die Aussage in der Umfrage wäre: "Impfungen sind überflüssig, da die Krankheiten, gegen die sie schützen, kaum noch auftreten.
Constraints (Barrieren in der Ausführung) beschreibt das Ausmaß wahrgenommener struktureller Hürden wie Stress, Zeitnot oder Aufwand. Zu bewerten wäre hier eine Aussage wie: "Alltagsstress hält mich davon ab, mich impfen zu lassen."
Calculation (Berechnung) erfasst das Ausmaß aktiver Informationssuche und bewusster Bewertung von Nutzen und Risiken von Impfungen. Auf einer Skala von 1-7 wäre die Aussage einzuschätzen: "Wenn ich darüber nachdenke, mich impfen zu lassen, wäge ich sorgfältig Nutzen und Risiken ab."
Collective Responsibility (Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft) beschreibt das Ausmaß der Motivation, durch die eigene Impfung zur Reduzierung der Krankheitsübertragung beizutragen und damit andere indirekt zu schützen, z. B. kleine Kinder oder Kranke. "Wenn alle geimpft sind, brauche ich mich nicht auch noch impfen zu lassen" wäre die Aussage, die es zu bewerten gilt.
Eine Analyse der für die deutsche Bevölkerung repräsentativen Stichprobe zwischen 16 bis einschließlich 85 Jahren zeigt, dass sich Personen mit höheren Werten für "Confidence" und "Collective Responsibility" in den vergangenen Jahren eher impfen ließen. Personen, die höhere praktische Barrieren (Constraints) empfanden und die Krankheitsrisiken als gering wahrnahmen (hohe Complacency-Werte), haben auf eine Impfung eher verzichtet.
Wissenschaftliche Empfehlungen an die Politik
In einem 2022 erschienenen Artikel in der Zeitschrift Nature Communications haben europäische Forschende formuliert, wie die Politik der Impfmüdigkeit begegnen könnte. Dies sei beispielsweise in Deutschland sehr wichtig, da Daten zeigten, dass Deutsche mehr Fragen und weniger Vertrauen in Impfungen hätten als vor der Corona-Pandemie, erklärt Mitautorin Cornelia Betsch von der Universität Erfurt. Dies betreffe nicht nur die Impfung gegen Corona, sondern das Thema Impfen allgemein.
Und so empfehlen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erstens, das Gesundheitssystem zu optimieren. Zum Beispiel könnten Erinnerungssysteme oder ein digitales Impfregister die Impfquote verbessern, weil Menschen besser und einfacher durch die Empfehlungen der Ärztinnen und Ärzte erreicht werden können.
Zweitens sollten Daten verwendet werden, die es erlauben, besonders betroffene Menschen und Gruppen zu erreichen, die Gesundheitsangebote eher weniger in Anspruch nehmen.
Drittens soll Gesundheitspersonal dabei unterstützt werden, Gespräche über das Impfen kompetent führen zu können und Falschinformationen zu entkräften.
Und viertens sei es für Gesundheitsbehörden wichtig, mit den Medien im steten Austausch zu sein, um sie dabei zu unterstützen, die komplexen Sachverhalten einfach und richtig zu kommunizieren.
Arzneimittelhersteller fordern Vereinfachung des Impfsystems
Der Verband der forschenden Arzneimittelhersteller meint, dass Impfmüdigkeit nur eine Ausrede für die niedrigen Impfquoten ist. Die Frage sei nicht: "Wie kriegen wir die Menschen zum Impfen?", sondern "Wie kriegen wir das Impfen zu den Menschen?" Wichtig sei eine einfache und schnelle Erreichbarkeit von Impfstellen, in denen man auch spontan und kurzfristig Termine bekäme.
Wie die Forschenden sehen die Pharmazeuten die Digitalisierung des Gesundheitswesens als große Chance. Ein digitaler Impfpass, der nicht gesucht werden müsse, weil er beispielsweise im Smartphone steckt, biete einen Mehrwert für alle.
Die Arneimittelhersteller argumentieren, dass eine großflächige Impfung Erwachsener sich sogar finanziell für die Gesellschaft auszahlen würde. Einer niederländischen Studie zufolge resultiert jeder Euro, der in die Impfung investiert werde in vier Euro Wirtschaftsleistung, beispielsweise durch geringere Kosten für medizinische Behandlungen und Krankengeldzahlungen und höhere Steuereinkünfte, weil die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht ausfielen, sondern weiter Arbeitsleistung erbringen könnten.