Studie zu planetaren Grenzen Der Erde geht die Puste aus
Weniger Artenvielfalt, zu viele Chemikalien und Kunststoffe, zu intensive Abholzung: Sechs von neun planetaren Grenzen sind Forschern zufolge bereits überschritten. Die Widerstandskraft der Erde schwinde.
Die Menschheit hat sich seit der letzten Eiszeit in einem stabilen und sicheren Umfeld entwickelt. Doch das ändert sich gerade. Zum ersten Mal hat eine Gruppe von 29 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Belastungsgrenzen dieses sicheren Handlungsraumes quantitativ gefasst, alle planetaren Grenzen sind damit vollständig beschrieben. Sie postulieren neun Dimensionen und stellen fest: Sechs davon sind bereits überschritten.
Das Konzept der planetaren Grenzen wurde ursprünglich von einer 28-köpfigen Gruppe von Erdsystem- und Umweltwissenschaftlern unter Leitung von Johan Rockström entwickelt und 2009 erstmals veröffentlicht. Es beschreibt ökologische Grenzen der Erde, deren Überschreitung die Stabilität des Ökosystems der Erde gefährdet und damit die Widerstandsfähigkeit des Planeten.
Derzeit werden neun planetare Grenzen diskutiert: Klimawandel, Versauerung der Ozeane, stratosphärischer Ozonabbau, atmosphärische Aerosolbelastung, biogeochemische Kreisläufe (etwa Phosphor und Stickstoff), der (Süß-)Wasserverbrauch, Landnutzungsänderung wie Abholzungen, die Unversehrtheit der Biosphäre (also der Biodiversitätsverlust) und das Einbringen neuartiger Substanzen, etwa die Belastungen durch Chemikalien.
"Fitnesswert" der Erde
Das Ergebnis ist im Fachblatt "Science Advances" zu lesen. "Wir wissen nicht, wie lange wir entscheidende Grenzen derart überschreiten können, bevor die Auswirkungen zu unumkehrbaren Veränderungen und Schäden führen", sagt Johan Rockström, Mit-Autor der Studie und Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK).
Das Konzept der planetaren Grenzen ist 2009 entstanden. Es soll einen sicheren Handlungsraum für die Menschheit abstecken. Werden die Grenzen überschritten, sei die Stabilität der Ökosysteme auf der Erde gefährdet, so die Forschenden.
Katherine Richardson von der Universität Kopenhagen, die Hauptautorin, vergleicht das Konzept mit den Fitnesswerten von Menschen. Ein Blutdruck von über 120/80 bedeute zwar nicht, dass ein sofortiger Herzinfarkt drohe - aber er je höher er steigt, desto höher auch das Risiko.
Artenvielfalt
Bislang haben natürliche Kräfte die Entwicklung der Erde beeinflusst. Die Menschheit ist als ein bestimmender Faktor hinzugekommen. Die massivste Grenzübersteigung sieht die Studie bei der Artenvielfalt. Sie sei die Rückversicherung des Systems, die Fähigkeit, Störungen auszugleichen. Besonders hier bewege sich die Menschheit mit hohem Risiko voran. Aber auch bei der Belastung durch Düngemittel, Klimagase, Kunststoffe und Radioaktivität seien die Grenzen überschritten - sowie bei der Abholzung und bei der Wassernutzung.
Verbesserte Datenbasis
Bereits zweimal hat die Gruppe ähnliche Berechnungen angestellt - 2009 und 2015. Mittlerweile liegen mehr Daten und Studien vor. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beschreiben die Situation vor der Industrialisierung als das stabile System, das die Entwicklung der Menschheit möglich gemacht hat. Sie vergleichen es mit dem Heute und schreiben die Entwicklung in die Zukunft fort. Die Definition der Grenzen, die diesem Konzept zugrunde liegen, ist schwierig und nicht unumstritten.
Grenzen der Erdsysteme
In der Studie werden die Grenzen etwa so gezogen: 280 ppm CO2 gelten als der vorindustrielle Wert. 350 ppm, das entspricht mittelfristig etwa einem Grad Temperaturerhöhung, werden als erste Grenze definiert. Danach beginnt eine Zone wachsender Risiken, die ab 450 ppm - was etwa einem Temperaturanstieg um zwei Grad entspricht - als Hochrisiko-Bereich bewertet werden.
Ähnliche Messlatten gibt es für andere Systeme. Bei den Veränderungen der Landnutzung etwa werden die Waldteile verschiedener Klimazonen betrachtet, beim Eintrag von Nährstoffen die Menge an Phosphat und Stickstoff, die in die Meere eingetragen werden.
Grenze bei Chemikalien
Schwieriger ist es für die Forschenden, Grenzen für den Eintrag von menschengemachten Stoffen festzulegen. Kunststoffe, Chemikalien, aber auch radioaktive Teilchen gehören dazu. Sie definieren einen sicheren Zustand als den, in dem solche Stoffe ausschließlich nach einer intensiven Risikobewertung und mit lückenloser Überwachung eingesetzt werden. Sie verweisen aber darauf, dass selbst die nach dem EU-Reach-System registrierten Chemikalien zu 80 Prozent ohne Sicherheitsüberprüfung in den Markt gelangt sind. Sie schließen daraus, dass hier Grenzen in jedem Fall überschritten werden.
Nicht alle Grenzen sind überschritten
Es gibt auch gute Nachrichten: Die Ozonzerstörung ist gebremst durch das Montreal-Protokoll, das im Januar 1989 zum Schutz der Ozonschicht in Kraft trat. Und hier wird die Grenze jetzt global eingehalten. Lediglich in der Antarktis und drei Monate im Jahr auch in Australien werden regional zu hohe Werte gemessen.
Auch die Aerosol-Erzeugung durch Menschen ("Staub" in der Atmosphäre) ist noch in einem grünen Bereich. Allerdings sei dies ein sehr unsicherer Wert, so die Forschenden. Die Grenzen dürften zumindest in China und Südasien regional überschritten werden.
Gerade noch im sicheren Bereich ist auch der Wert für die Versauerung der Ozeane. Aber auch hier, so die Autoren, entwickelten sich die Dinge immer schneller zum Schlechteren.
Studie soll ein Weckruf sein
Die Autoren nennen ihre Arbeit einen erneuten Weckruf an die Menschheit. Sie laufe Gefahr, ihre sichere Basis zu zerstören. Sie verweisen vor allem darauf, dass keines der Erdsysteme für sich alleine steht, dass sie sich gegenseitig bedingen und beeinflussen. Darin lägen Risiken und Chancen. Würde man etwa die Waldfläche der Erde wieder auf die Ausmaße gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts bringen, könnte das eine bedeutende Senke für das Klimagas CO2 sein - und damit ein wirksames Mittel gegen weitere Temperaturerhöhungen.
Aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse
Die Analyse basiert auf den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und sehr komplexen Modellen. Sie ist erst durch immer leistungsfähigere Computersimulationen möglich geworden, wie dem Potsdamer Erdsystemmodell POEM und dem Biospärenmodell LPJmL. Damit wurden Entwicklungen für mehrere Hundert Jahre in die Zukunft berechnet, um auch langsamere Veränderungen wahrnehmen zu können. Wie bei allen Projektionen müssen dazu auch viele Annahmen gemacht werden.
Wenn Johan Rockström davon spricht, dass dies "das erste vollständige Bild der Kapazitäten unseres Planeten sei, den von uns erzeugten Druck abzufedern", dann ist das sicherlich kein exaktes Foto - sondern eher eine erste Skizze.