Ein Junge läuft nach dem schweren Erdbeben in Marokko durch die Trümmer in der Stadt Amizmiz.
reportage

Kinder nach Beben in Marokko Traumatisiert in den Trümmern

Stand: 14.09.2023 08:51 Uhr

Von dem katastrophalen Ausmaß des Erdbebens in Marokko sind laut UN etwa 100.000 Kinder betroffen. Viele sind traumatisiert. Für Helferinnen und Helfer eine große Herausforderung.

Von Susanne Tappe und Dunja Sadaqi, ARD Rabat

Im ersten Moment ist es ein etwas befremdlicher Anblick: Im Dorf Asni am Fuße des Atlasgebirges hat das marokkanische Militär ein hochprofessionelles Feldlazarett aufgebaut: inklusive klimatisiertem OP-Zelt, einem Labor für Analysen vor Ort - und einem Trampolin, auf dem Kinder herumtollen. 

Etwa 300.000 Menschen sind von den Folgen des schweren Erdbebens betroffen, schätzen die Vereinten Nationen, darunter circa 100.000 Kinder. Viele wurden verletzt - körperlich, aber auch seelisch. Zum Teil sind sie schwer traumatisiert.

Das Trampolin ist eine Erste-Hilfe-Maßnahme, sagt Katharina Ebel, Programm-Managerin der Hilfsorganisation SOS-Kinderdörfer. "Ein Trampolin im Feldlazarett ist tatsächlich eine der besten Sachen, die dem Militär einfallen konnte", sagt sie. Die Kinder bräuchten "das Gefühl von Normalität, auch wieder von Spaß". Ebel betont: "Es ist nicht verboten, Spaß zu haben, auch wenn eine Katastrophe passiert ist. Das gibt ihnen Sicherheit."

Mehr als 30 Kinder ohne Eltern

Ebel war eigentlich nach Marrakesch geflogen, um Urlaub zu machen. Nach dem Beben half sie ihren Kolleginnen und Kollegen spontan bei der Nothilfe vor Ort. Ihre Organisation betreibt fünf SOS-Kinderdörfer, mehrere Jugendwohngemeinschaften sowie Programme zur Familienhilfe in Marokko.

Die marokkanische Regierung habe ihre Organisation inzwischen benachrichtigt, dass es bislang 32 Kinder gebe, die ihre Eltern verloren hätten und nun dringend ein neues Zuhause benötigten, so Ebel weiter: "Die Kinder sollen bei uns in den beiden Kinderdörfern in Agadir und in Marrakesch aufgenommen und dort sowohl medizinisch als auch natürlich psychologisch betreut werden."

Zelte als Kinderwunsch

Ein Besuch im Dorf Tansgharte im Atlasgebirge, im Epizentrum des Bebens. Frauen kochen unter freiem Himmel für das ganze Dorf mit dem Wenigen, was sie noch haben. Während eines Interviews zupft plötzlich ein kleiner Junge die ARD-Reporterin am Arm. Er möchte unbedingt etwas sagen und hört dann nicht mehr auf. Es ist klar, der etwa Zehnjährige muss sich alles von der Seele reden: 

Ich heiße Abdel Razak aus dem Dorf Tansgharte. Ich bitte den Staat, uns Zelte zu schicken. Wir sind nachts auf die Straße gerannt und konnten nichts sehen. Es gibt keine Zelte. Denn die Zelte, die im Dorf Asni waren, sind alle weg. Wir bitten den Staat um Zelte für die Menschen hier, denn man hat uns Essen gebracht, aber wir haben keine Zelte, um drin zu schlafen.

Der Junge redet schnell, wie unter Druck, als wolle er keine Zeit verlieren. Die Erwachsenen nicken, der Junge soll reden:

Vor was wir Angst haben? Wenn es regnen wird, was machen wir dann? Wir haben nur ein großes Zelt. Wenn die Leute nur ein bisschen Wind aufkommen sehen, haben sie Angst, dass es noch ein Erdbeben ist. Abends zittern wir vor Kälte." 

 

Aus Angst nicht in die Schule

Lokale Hilfsorganisationen aus dem ganzen Land bringen Lebensmittel, Medikamente, Zelte und Decken in die Berge. Auch wenn sie eigentlich nichts mit Nothilfe zu tun haben. Die Organisation Tildat aus der Stadt Chichaoua, westlich von Marrakesch, setzt sich normalerweise für die Gleichstellung von Frauen ein. Jetzt organisiert sie Garküchen in rund 30 Douars - kleine Häuseransammlungen im Krisengebiet, wo bisher kaum Versorgung angekommen ist.

Der Leiter von Tildat, Said Kouias, denkt bereits an die Zukunft. Er befürchtet, dass noch mehr Kinder als zuvor die Schule abbrechen könnten. Denn auch in Kommunen, wo das Erdbeben keine schlimmen Schäden angerichtet hat, weigerten sich viele Kinder, zur Schule zu gehen. Weil sie immer noch Angst hätten, erzählt Kouias. 

Seine Organisation arbeite mit Bildungsgewerkschaften und staatlichen Einrichtungen zusammen, so Kouias: "Wir planen ein Programm, um mithilfe von Psychologen Lehrer fortzubilden. Die Lehrer sollen vor Ort unterstützen und mit Schülern und ihren Familien Kontakt halten." Das Programm solle in den nächsten Tagen starten. "Wir überlegen auch, große Zelte als Klassenzimmer und Schlafräume für die Schulkinder zu organisieren. Insbesondere für Mädchen, um sie vor Minderjährigenehen zu schützen", sagt der Tildat-Leiter.

Auf so ein Zelt hofft im Dorf Tansgharte auch der kleine Abdel Razak. Und im Atlasgebirge viele, viele andere Kinder mehr.

Susanne Tappe, ARD Rabat, tagesschau, 14.09.2023 08:08 Uhr