Krise um Niger "ECOWAS hat sich unter Zugzwang gesetzt"
Vor Donnerstag wird es keine Entscheidung über eine Militärintervention in Niger geben. Die ECOWAS setzt sich aber selbst unter Druck, sagt der Afrika-Experte Matthias Basedau im Interview. Kann es in dieser Lage noch einen Kompromiss geben?
tagesschau.de: Die ECOWAS hält ihre Drohung einer Militärintervention gegen die Junta in Niger aufrecht. Bei den vorherigen Umstürzen in der Region in Mali und Burkina Faso gab es kein Eingreifen seitens der Nachbarstaaten. Was ist in diesem Fall anders?
Matthias Basedau: Die Reaktion der ECOWAS, aber auch des Westens, ist deutlich schärfer ausgefallen. Es geht darum, eine Art Dominoeffekt aufzuhalten. Nigeria ist das Schwergewicht innerhalb der ECOWAS, sieht sich auch als regionale Ordnungsmacht und möchte verhindern, dass Militärputsche wieder zur Normalität werden.
Es gibt auch ein Eigeninteresse, weil Nigeria ebenfalls eine Vergangenheit mit Militärregimen und -putschen hat. Außerdem gibt es eine gemeinsame Grenze und auch Bevölkerungsgruppen, die auf beiden Seiten siedeln.
Professor Matthias Basedau ist Direkor des GIGA Instituts für Afrika-Studien in Hamburg.
"Militärisch weit überlegen"
tagesschau.de: Setzt sich aber die ECOWAS mit der Drohung nicht selbst unter Druck, Worten Taten folgen zu lassen, um nicht zahnlos dazustehen?
Basedau: Die ECOWAS hat sich selbst unter Zugzwang gesetzt und möglicherweise gehofft, dass die Drohung allein ausreichen wird. Wir müssen abwarten, was daraus wird. Aber das Ultimatum selbst zeigt, dass es auf Seiten Nigerias und der ECOWAS eine gewisse Dringlichkeit gibt.
Militärisch ist die ECOWAS der nigrischen Armee, zumal mit westlicher Unterstützung, bei weitem überlegen - rein zahlenmäßig und auch bei der Ausrüstung. Aber wir wissen seit Russlands Angriff auf die Ukraine, dass jeder Kriegsplan in dem Moment Makulatur sein kann, wo es den ersten Feindkontakt gibt.
tagesschau.de: Zumal es auch die Ankündigung von Mali und Burkina Faso gibt, dass man eine Intervention auch als Kriegserklärung an sich begreifen würde.
Basedau: Andererseits sind auch die Streitkräfte von Burkina Faso und Mali nicht sehr groß und nicht sehr schlagkräftig. Und zweitens sind sie in der Bekämpfung der Dschihadisten des "Islamischen Staats" gebunden. Ob beide Staaten militärische eine große Rolle spielen würden, muss man mit einem Fragezeichen versehen. Hinter der Drohung steht klar die Befürchtung der Militärregierungen von Mali und Burkina Faso, dass sie selbst gestürzt werden.
tagesschau.de: Hätte Ihrer Einschätzung nach eine Intervention ohne Mitwirken der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich überhaupt Aussicht auf Erfolg?
Basedau: Sicher würden die Erfolgsaussichten einer Intervention wesentlich größer sein, wenn Frankreich und die USA sie unterstützen würden. Politisch wäre aber genau das heikel, weil es das Narrativ bestätigen würde, dass es neokoloniale Interessen seitens Frankreichs oder auch der USA gibt.
"Schwer, Dschihadisten vollständig zu besiegen"
tagesschau.de: Die Putschisten haben ihre Revolte auch mit der schlechten Sicherheitslage im Land begründet. Wie stichhaltig ist das?
Basedau: Die Sicherheitslage im Niger ist alles andere als gut. Vielleicht nicht so prekär wie in Mali und Burkina Faso, aber es gibt ähnliche Probleme.
Die Antwort auf die Frage, wie erfolgreich der Kampf gegen den Dschihadismus bislang war, hängt auch von der Erwartungshaltung ab. Auch im Niger gibt es keinen glänzenden Sieg gegen die Dschihadisten, aber bislang wurde verhindert, dass Niger zu einem islamistischen Staat wird. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir hier über einen riesigen Staat sprechen, dessen Territorium von Armeen dieser Stärke kaum zu kontrollieren ist. Und weil die Dschihadisten häufig Guerillataktiken anwenden, ist es schwer, sie vollständig zu besiegen.
"Lebensbedingungen sind katastrophal"
tagesschau.de: Es gab nach dem Putsch Demonstrationen für und gegen die Junta, aber kein breites Aufbegehren. Aber es gab auch kein breites Eintreten für die Bewahrung der Demokratie. Sind die Menschen enttäuscht von der Demokratie?
Basedau: Ich glaube nicht, dass es für die Menschen in erster Linie um die Demokratie geht. Es geht ihnen um die allgemeinen Lebensbedingungen. Und die sind auch im Niger für weite Teile der Bevölkerung katastrophal. Daraus ergibt sich ein großes Potenzial für Unzufriedenheit. Inwieweit die Bevölkerung sich für oder gegen den Putsch ausspricht, ist noch unklar. Und die russischen Flaggen, die geschwenkt wurden, können möglicherweise auch gegen Bezahlung geschwenkt worden sein.
Innerhalb der Militärs könnte es noch andere Motive gegeben haben, zu putschen. General Abdourahamane Tiani, der Anführer der Revolte, sollte von seinem Posten abgesetzt werden und ist dem durch den Umsturz zuvorgekommen. Kolportiert wurde auch, dass es im Militär Unruhe gegeben habe, weil der nun gestürzte Präsident Mohamed Bazoum der arabischen Minderheit im Land angehört. Und schließlich kann es einen Nachahmungseffekt gegeben haben, weil in den Nachbarländern Militärrevolten erfolgreich gewesen waren.
"Entwicklungszusammenarbeit kein Wundermittel"
tagesschau.de: Die EU und ihre Mitgliedstaaten haben viel Geld in das Land gepumpt. Hat das zu wenig bewirkt?
Basedau: Diese Beobachtung teile ich. Allerdings müssen wir auch hier unsere Erwartungshaltung korrigieren. Erstens lassen sich solche Verhältnisse nicht kurzfristig korrigieren. Zweitens sollten wir nicht zu viel vom Instrument der Entwicklungszusammenarbeit erwarten. Es war ja auch in den vergangenen Jahrzehnten nicht so, dass die Entwicklungszusammenarbeit alles verändert hätte. Das heißt nicht, dass sie komplett wirkungslos ist. Aber sie ist nicht das Wundermittel, als das sie oft dargestellt wird.
"Sanktionen treffen die Bevölkerung"
tagesschau.de: Die Unzufriedenheit der Bevölkerung zeigt, dass man eine Verbesserung der Lebensverhältnisse erwartet - sicherlich auch von der Militärregierung. Setzen die Sanktionen der ECOWAS und der EU das Regime deshalb wirkungsvoll unter Druck?
Basedau: Die Militärregierung ist hier in einer Zwickmühle. Einerseits braucht sie die Auslandshilfen. Andererseits bekommt sie die nur, wenn es mindestens irgendeine Art von Kompromiss gibt.
Zugleich setzen die Sanktionen zwar das Regime unter Druck, treffen am Ende aber vor allem die Bevölkerung. Die Idee ist, dass der Druck so stark wird, dass die Junta einlenkt. Das ist nicht ausgeschlossen - muss aber nicht so kommen.
"EU hat ein Interesse an weiterer Zusammenarbeit"
tagesschau.de: Und muss der Westen, insbesondere die EU, seinerseits nicht auch ebenfalls ein Interesse daran haben, zu einem Kompromiss zu kommen, weil ja der Niger als Partner eine wichtige Rolle spielt - in der Hoffnung, dass man die Dschihadisten in der Region zurückdrängt und die Migrationsströme begrenzt?
Basedau: Die EU hat ein großes Interesse, die Zusammenarbeit mit dem Niger fortzusetzen. Allerdings wäre es auch problematisch, diesen Militärputsch zu akzeptieren, weil das ein schlechtes Beispiel für andere Länder sein könnte.
Und dann würde auch wieder das Argument greifen, dass die Europäer gerne mit Putschisten oder Nichtdemokraten oder Autokraten zusammenarbeiten, wenn es ihren Interessen dient. Aber da die Lage explosiv ist, wäre ein konstruktiver Kompromiss zu begrüßen.
In Niger leben etwa 26 Millionen Menschen, das Land gehört zu den ärmsten der Welt. Auf dem Index der menschlichen Entwicklung der Vereinten Nationen belegte das Land in der Sahelzone zuletzt Platz 189 von 191. Mehr als 40 Prozent der Menschen leben in extremer Armut, das Land ist auf internationale Hilfen angewiesen. Nach Mali und Burkina Faso ist Niger der dritte Staat in der Sahelzone, der seit 2020 einen Putsch erlebt. Dabei galt das Land bislang als demokratischer Vorzeige-Staat: Die Amtseinführung von Präsident Bazoum im April 2021 markierte den ersten friedlichen demokratischen Machtwechsel im Land seit seiner Unabhängigkeit von Frankreich im Jahr 1960. Außerhalb der großen Städte ist in Niger der Staat kaum präsent. Von einer Fläche, die dreieinhalbmal so groß wie Deutschland ist, sind zwei Drittel Wüste. Niger hat die höchste Geburtenrate und die jüngste Bevölkerung der Welt - Kinder unter zehn Jahren machen mehr als ein Drittel der Einwohner aus.
"Westen im Sahel in einer schwierigen Lage"
tagesschau.de: Könnte ein Kompromiss so aussehen, dass die Junta zusagt, nach einem Zeitraum X die Macht wieder abzugeben?
Basedau: Das war bei den vorherigen Putschen gerade häufig das übliche Szenario. Allerdings wissen wir auch jetzt nicht, ob die Junta jetzt angesichts des Drucks noch stärker auf Russland setzt. Und Russland hätte natürlich an so einem Kompromiss kein Interesse. Insgesamt befindet sich der Westen gerade im Sahel in einer schwierigen Lage.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de