Parlamentswahlen Wendet sich Südafrika vom ANC ab?
Noch nie seit dem Ende der Apartheid musste der ANC in Südafrika so sehr um die Macht fürchten wie vor der heutigen Parlamentswahl. Bekommt die einstige Freiheitsbewegung nun die Quittung für Misswirtschaft und Korruption?
"Rettet Südafrika, es geht um alles!" - so steht es auf den Plakaten, mit denen die Straßenlaternen im ganzen Land gepflastert sind. Die Wahl gilt als die wichtigste seit dem Ende der Apartheid, das Jahr 2024 als Schicksalsjahr für Südafrika. Denn das Land steht vor einem historischen Einschnitt.
Nach 30 Jahren Alleinherrschaft droht dem Afrikanischen Nationalkongress (ANC) eine verheerende Niederlage. Zum ersten Mal in der Geschichte des demokratischen Südafrika könnte der ANC, die Partei von Freiheitsikone Nelson Mandela, die absolute Mehrheit verlieren.
Die frühere Widerstandsbewegung hat ihr Image gründlich ramponiert. Die Menschen wenden sich ab und werfen dem ANC Misswirtschaft, Korruption und Regierungsversagen vor. Die Aufbruchstimmung von vor 30 Jahren ist längst verflogen.
Ein Land tritt auf der Stelle
Armut, Arbeitslosigkeit, Kriminalität - bei keinem der gewaltigen Probleme des Landes hat sich zuletzt spürbar etwas verbessert. Die Wirtschaft tritt auf der Stelle. Wachstum gibt es kaum, und das schon seit Jahren.
Mehr als 40 Prozent der Südafrikaner haben keinen Job, von den jungen Leuten sind sogar zwei Drittel arbeitslos. Viele Wählerinnen und Wähler hoffen jetzt auf einen politischen Wechsel und auf Reformen, mit denen das Land aus der Misere geführt werden kann.
Die Bürger warten auf den Staat
Das Reizwort im Wahlkampf lautet: "service delivery". Dabei geht es um das, was die Bürgerinnen und Bürger als Gegenleistung für ihre Steuern vom Staat erwarten, nämlich um verlässliche Dienstleistungen. Dass zum Beispiel die Polizei für Sicherheit sorgt, Schulen funktionieren oder Wasser aus dem Hahn kommt - was in der Millionenmetropole Johannesburg und anderswo nicht immer der Fall ist. Weil die Leitungsnetze Löcher haben, Speicherbecken undicht sind und Pumpstationen ausfallen. Auch die vielen Schlaglöcher sind schon seit Jahren ein gewaltiges Ärgernis.
Manche erinnern eher an Mondkrater und können im Dunkeln zu einer echten Gefahr werden. Um viele sind mit Leuchtfarbe Kreise gemalt, daneben die Buchstaben "ANC". Um die Autofahrer zu warnen und ihnen gleichzeitig klarzumachen, wem sie die Misere zu verdanken haben.
Alltagsproblem Stromausfall
Wer in Südafrika "service delivery" einklagt, der meint aber vor allem: dass es Strom gibt, und zwar immer und überall. Davon allerdings kann schon seit Jahren keine Rede sein.
Stattdessen gehört für private Verbraucher genauso wie für die Industrie das sogenannte "load shedding" zum Alltag. Heißt übersetzt so viel wie "Lastenabwurf", was harmlos klingt, aber den Menschen das Leben schwer macht.
Weil die überalterten Kraftwerke den Energiebedarf nicht decken können, wird immer wieder stundenlang der Strom abgestellt. Kein anderes Thema bringt die Menschen so verlässlich auf die Palme.
Im Kreuzfeuer der Kritik steht auch hier: die Regierungspartei ANC. Denn Vetternwirtschaft, Missmanagement und organisierte Kriminalität haben die Probleme zusätzlich verschärft.
Unerwartete Wende
Allerdings erlebt Südafrika seit Ende März ein regelrechtes Energie-Wunder. Denn plötzlich fließt der Strom wieder, und das sogar verlässlich. Die App des Energiekonzerns Eskom, die sonst auf die Ausfälle hinweist, zählt stolz die Tage, an denen dem Land die üblichen Blackouts erspart bleiben.
Mehr als acht Wochen am Stück sind es inzwischen, das gab es zuletzt vor über drei Jahren. Die Menschen reiben sich ungläubig die Augen und fragen sich: Wie kann das sein? So mancher hat den Verdacht, dass die Regierung hinter den Kulissen mächtig trickst, damit sie endlich mal gute Nachrichten verbreiten kann.
Unabhängige Energieexperten sagen dagegen, dass der Staat endlich die Wartungsarbeiten in den Kraftwerken und den Ausbau der Erneuerbaren Energien vorantreibt.
Kommt es zu einer Koalition?
Zwar liegt der ANC in den Umfragen deutlich unter seinen Rekordergebnissen der vergangenen Jahre, er wird aber auch diesmal die mit Abstand stärkste politische Kraft bleiben. Allerdings könnte erstmals eine Regierungskoalition nötig sein.
Als mögliche Partner für den ANC kämen die bürgerliche und wirtschaftsfreundliche "Democratic Alliance" und die linkspopulistischen "Economic Freedom Fighters" in Frage. Beide Varianten würden einen tiefgreifenden politischen Kurswechsel für das Land bedeuten.
Zumas Rückspiel mit dem ANC
Und dann ist da ja auch noch Jacob Zuma. Der ehemalige Staatschef darf zwar selbst gar nicht kandidieren, hat aber mit seiner neuen Partei "MK" den Wahlkampf gehörig aufgemischt.
Sein Programm ist radikal. Er will die Verfassung aushebeln, das Parlament entmachten, Stammesführern mehr Einfluss geben, weiße Landbesitzer enteignen, wichtige Industriebranchen verstaatlichen.
Außerdem geht es Zuma um Rache an der aktuellen ANC-Führung, die ihn 2019 wegen seiner zahlreichen Korruptionsskandale aus dem Amt gedrängt hat.
Welche Rolle spielen die Splittergruppen?
So oder so: Falls der ANC tatsächlich die absolute Mehrheit verliert, steht dem Land eine schwierige Regierungsbildung bevor, die innerhalb von zwei Wochen nach der Wahl abgeschlossen sein muss. Ausführliche Koalitionsverhandlungen sind da kaum zu machen.
Zumal sich mehr als 50 Parteien um die 400 Mandate im Parlament bewerben und es in Südafrika, anders als in Deutschland, keine feste Sperrklausel gibt. Aktuell sind in der Nationalversammlung 14 Parteien vertreten, acht davon haben nur einen oder zwei Sitze.
Politologen gehen davon aus, dass der ANC zunächst versuchen wird, sich mit Hilfe solcher Splittergruppen an der Macht zu halten.
Wende auf den letzten Metern?
Vielleicht kommt aber auch alles ganz anders. Zuletzt nämlich hat sich der ANC in den Umfragen leicht erholt. Was auch daran liegt, dass er für die Zukunft neue soziale Wohltaten verspricht.
Gerade erst hat die Regierung eine Gesundheitsreform beschlossen, die allen Bürgerinnen und Bürgern kostenlose Behandlung in Krankenhäusern und Arztpraxen verspricht.
Außerdem verfügt die ehemalige Freiheitsbewegung nach wie vor über eine gut geölte Wahlkampfmaschinerie und ist im ganzen Land mit ihren Leuten schon seit Jahrzehnten dicht bei den Menschen, selbst in den entlegensten Regionen. Wo es viel Armut gibt, und örtliche Autoritäten wie Stammesführer, Ortsvorsteher oder traditionelle Heiler immer noch großen Einfluss haben.
Und: Der amtierende Präsident Cyril Ramaphosa ist der mit Abstand beliebteste Politiker des Landes, seine Zustimmungswerte liegen deutlich über denen des ANC, der bei der Wahl vom guten Image seines Spitzenkandidaten profitieren könnte.
Womöglich gelingt es der Partei von Mandela also doch, ihre absolute Mehrheit zu verteidigen - und sei es noch so knapp.