60 Jahre später Warum das Kennedy-Attentat bis heute nachwirkt
Am 22. November 1963 fielen Schüsse, die die Welt veränderten. John F. Kennedy wurde bei einer Fahrt durch Dallas ermordet. Laut Historikern hat die heutige Spaltung der USA viel mit dem Kennedy-Mord zu tun.
Joe Carter hat sie selbst gehört, die Schüsse auf John F. Kennedy. Er saß damals für die Nachrichtenagentur UPI im Pressebus hinter der Präsidenten-Limousine.
Jetzt steht der 91-Jährige wieder am Tatort in Dallas und sagt: "Ich konnte die Schüsse hören, den ersten, bäng, den zweiten, bäng, und den dritten. Sie verfolgen mich bis heute, ich höre sie immer noch, 60 Jahre später."
Die Schüsse kamen aus dem sechsten Stock des Schulbuchlagers an der Dealey Plaza, abgefeuert vom 24-jährigen Lee Harvey Oswald - so hat es die Warren Commission, die staatliche Untersuchungskommission in ihrem Abschlussbericht zehn Monate nach dem Attentat festgestellt.
Dass Oswald der alleinige Täter war, glaubt auch Joe Carter, allen Verschwörungstheorien zum Trotz:
Absolut. Ich würde sagen, zu 99,9 Prozent war es so. Es gibt immer diesen Restzweifel, ob nicht doch etwas Geheimnisvolles dahintersteckt. Aber ich glaube das nicht.
Es gibt immer noch Widersprüche
Kaum jemand kennt sowohl die offizielle Version der Warren Commission als auch all die Verschwörungstheorien so gut wie der Historiker Stephen Fagin. Er ist Kurator des Sixth Floor Museum, des Kennedy-Museums im sechsten Stock des damaligen Schulbuchlagers, aus dem die Schüsse fielen.
“Es gibt immer noch Fragen, Dinge, die auch ich nicht erklären kann: Widersprüche zwischen der Beschreibung von Kennedys Schusswunden durch die Ärzte hier in Dallas direkt nach der Tat und durch die Ärzte in Bethesda, Maryland, die am Abend die Autopsie durchführten", sagt Fagin, und fährt fort, "es gibt offene Fragen über Lee Harvey Oswalds Hintergrund, was er zum Beispiel wenige Wochen vor dem Attentat in Mexiko-Stadt gemacht hat, wo er einen KGB-Agenten traf, der zur Abteilung für Auftragsmorde gehörte."
Tausende Bücher erschienen
Die Liste der Details, die Zweifel wecken, ließe sich endlos fortsetzen. Nach Fagins Schätzung sind zwischen 3.000 und 4.000 Bücher erschienen, die sich ausschließlich oder teilweise mit dem Kennedy-Mord beschäftigen.
Gleichzeitig gibt es viele Anhaltspunkte, die tatsächlich auf Oswald als Täter hinweisen: seine Arbeit im Schulbuchlager, seine Fingerabdrücke an der dort gefundenen Waffe, Oswalds Ausbildung zum Scharfschützen in seiner Zeit bei den US-Marines.
Am Ende geht es darum, was die Leute glauben, was sie entsprechend ihres Weltbilds glauben wollen.
Sehr viele, sogar die große Mehrheit der Amerikanerinnen und Amerikaner, empfinden es laut Historiker Fagin als "zutiefst unbefriedigend, dass ein missmutiger 24-jähriger früherer Soldat, dessen Ehe gerade in die Brüche ging, kurzentschlossen in den sechsten Stock gegangen und die Weltgeschichte derart beeinflusst haben soll". Deshalb erscheine vielen eine Verschwörung deutlich plausibler.
Nur zwei Tage nach dem Kennedy-Attentat wurde Lee Harvey Oswald durch den Nachtclub-Besitzer Jack Ruby vor laufenden Fernsehkameras erschossen.
65 Prozent glauben eine andere Version
Es kam nie zum Prozess gegen Oswald, er wurde nur zwei Tage nach dem Kennedy-Attentat durch den Nachtclub-Besitzer Jack Ruby vor laufenden Fernsehkameras erschossen. Nach einer aktuellen Gallup-Umfrage glauben auch heute 65 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner nicht daran, dass Lee Harvey Oswald allein handelte.
Auch Patricia Hall glaubt nicht an die Einzeltäter-These. Sie kannte Lee Harvey Oswald, weil er zuletzt im Haus ihrer Großmutter zur Miete wohnte. Heute betreibt Hall dort ein kleines Lee-Harvey-Oswald-Museum. Unter anderem ist Oswalds winziges Zimmer mit der Original-Möblierung von damals zu sehen.
"Ich war elf Jahre alt und erinnere mich sehr, sehr lebhaft an ihn. An einem typischen Tag kam er von der Arbeit nach Hause, ging kurz in sein Zimmer und kam dann wieder heraus", erzählt Hall. "Wenn er uns Kinder vor dem Fernseher sitzen sah, schaute er meine beiden Brüder an und sagte: 'Lasst uns zum Spielen raus gehen.' Und schon waren sie draußen." Er sei sehr freundlich gewesen, ihre Brüder hätten ihn geradezu verehrt.
Patricia Hall ist überzeugt: Lee Harvey Oswald sei als Täter nur vorgeschoben. Sie glaubt an ein Komplott des US-Auslandsgeheimdienstes CIA, mit Vizepräsident Lyndon B. Johnson als Kopf der Verschwörung.
Keine abschließende Klärung
Es ist eine von vielen Theorien. Andere sehen die Sowjetunion, Kubas Diktator Fidel Castro oder das organisierte Verbrechen, die Mafia in den USA als Drahtzieher. Eine abschließende Klärung wird es wohl nie geben, obwohl inzwischen fast alle Regierungsdokumente rund um das Kennedy-Attentat freigegeben sind, wie der Historiker Stephen Fagin betont:
"Jetzt zum 60. Jahrestag des Attentats sind 99 Prozent der Dokumente öffentlich zugänglich. Und sie beweisen keine Verschwörung. Was sie beweisen, ist, dass die Regierung damals Informationen zurückgehalten hat, dass sie versucht hat, eigene Ermittlungsfehler zu vertuschen", sagt Fagin.
"Aber sie zeigen keinerlei Komplizenschaft in der Ermordung. Das heißt: Es bleiben offene Fragen, aber es gibt kein Video, kein Foto, kein Dokument, das definitiv beweist, dass mehr hinter der Geschichte steckt als nur Lee Harvey Oswald."
In einem sind sich Patricia Hall und Stephen Fagin einig: Kennedy war ein Idol. Und, dass der Mord an Kennedy bis heute nachwirkt.
Für viele galten Ex-First Lady Jackie Kennedy und Mann John F. Kennedy als das perfekte Paar.
Das perfekte Paar
"Er war grandios", sagt Patricia Hall. "Er und Jackie waren für uns wie König und Königin von Amerika. Sie waren das perfekte Paar. Sie sahen zusammen wunderschön aus. Unser Land war im siebten Himmel zu dieser Zeit, wirklich. Er hat uns Hoffnung gegeben. Und als wir ihn verloren haben, hat dieses Land seine Unschuld verloren. Wir haben der Regierung nicht mehr vertraut."
Der Historiker Fagin betont, schon zu Lebzeiten Kennedys habe es eine tiefe politische Spaltung im Land gegeben, speziell in Texas, wo eine lautstarke rechtsextreme Szene Kennedy offen anfeindete, etwa weil er sich für die Bürgerreche der Schwarzen einsetzte. Fagin zieht eine direkte Linie vom Geschehen in Dallas zur Spaltung der USA heute:
"Man kann absolut eine Linie ziehen vom Attentat an der Dealey Plaza zum Zustand des Landes im Jahr 2023. Also tief gespalten, mit dem festen Glauben vieler, dass es einen 'deep state' gibt, eine geheime Regierung, die im Hintergrund die Dinge kontrolliert."
Bücherkartons stehen im Sixth Floor Museum, dem Kennedy-Museum im sechsten Stock des damaligen Schulbuchlagers, vor dem Fenster, aus dem die Schüsse gefallen sein sollen.
Bis heute viele Fans
Im Kennedy-Museum in Dallas sind rund um den 60. Jahrestag noch mehr Schulklassen als sonst anzutreffen. Auch Zwölfjährige diskutieren aufgeregt über das Kennedy-Attentat. Unten auf der Straße, wo ein großes X auf dem Asphalt die Stelle markiert, an der Kennedy vom tödlichen Kopfschuss getroffen wurde, machen Besuchergruppen Selfies, nicht nur aus den USA.
"Er war ein so junger Präsident. Er wirkt über Generationen hinweg, mit seinem Versprechen eines besseren Amerikas", sagt Johnny Cairns. Der 32-jährige kommt aus Schottland, ist seit seiner Kindheit von Kennedy fasziniert und zum Jahrestag extra nach Dallas geflogen. Er weiß, dass die politische Leistungsbilanz Kennedys im Urteil vieler Historiker eher gemischt ausfällt. Aber er selbst ist durch und durch Fan:
"Ich bewundere John F. Kennedy sehr. Es gibt heute einfach keine Politiker mehr wie ihn. Was 1963 passiert ist, war ein Wendepunkt - das ist sicher."