US-Repräsentantenhaus Droht ein Machtkampf wie 1856?
Auch nach elf Wahlgängen hat das US-Repräsentantenhaus keinen Sprecher. Es ist eine der längsten Abstimmungen der US-Geschichte, selbst der Rekord von 1856 könnte wackeln. Heute gibt es einen neuen Anlauf.
Es wird immer kurioser, immer verzweifelter: Nicht neun Wahlgänge hat es bislang gegeben, wie zuletzt vor 100 Jahren im Jahr 1923. Es waren auch nicht zehn Wahlgänge, sondern elf. Und es werden noch mehr werden, denn auch der elfte Versuch, Kevin McCarthy zum Sprecher des Repräsentantenhauses zu wählen, ist gescheitert.
Inzwischen wird das Jahr 1856 als Vergleich herangezogen. Damals brauchte das Repräsentantenhaus 133 Wahlgänge, es dauerte zwei Monate. Das ist der Rekord.
Noch ist McCarthy verhandlungsbereit
McCarthy jedenfalls verhandelt nach wie vor mit den rund 20 Abweichlern in seiner Partei über Posten in Ausschüssen, weniger staatliche Ausgaben und Möglichkeiten, einen Sprecher in Zukunft leichter abwählen zu können. "Ich denke, wir haben gute Diskussionen, und alle wollen eine Lösung finden", sagt der 57-Jährige, dessen Gesicht nur noch mit Mühe eine freundliche Fassade aufrechterhält.
Noch hat er eine große Zahl von Unterstützern, die sagen: McCarthy ist der einzige, der die verschiedenen Flügel der Partei zusammenhalten kann. "Ob es die erste, die fünfte oder die hundertste Abstimmung ist: Ich unterstütze Kevin McCarthy", sagt etwa der republikanische Abgeordnete Mike Lawler im Radiosender NPR.
Zu den Kuriositäten des dritten Abstimmungstags gehörte, dass Matt Gaetz, der wohl härteste Abweichler vom rechten Rand der Partei, Ex-Präsident Donald Trump für den Sprecherposten nominierte. Möglich ist das, der Sprecher muss laut Regularien nicht Mitglied des Repräsentantenhauses sein. Doch Gaetz blieb der einzige Abgeordnete, der für Trump stimmte.
Wenig Verständnis in der Bevölkerung
Die Bevölkerung in Washington blickt ungläubig auf die Blockade im Parlament. "So etwas habe ich noch nicht erlebt. Niemand weiß, wie man das beschreiben soll", sagt ein Passant. "Es ist unglaublich entmutigend, das mit anzusehen", meint eine Frau. "Aber es überrascht mich nicht. Ich denke, die Republikaner wissen zur Zeit nicht, wer sie als Partei sind. Schwer zu sagen, wofür sie stehen."
Nur wenige der Befragten zeigen Verständnis. Ein Passant sagt auf die Frage, ob die Hängepartie im Parlament die Demokratie beschädigt: Nein, es sei das gute Recht einer kleinen Gruppe, anders zu denken als die Mehrheit in der Partei: "Ich denke, das ist Demokratie. Sie stimmen ab. Und ein Kandidat hat nicht genug Stimmen, um zu gewinnen. Ich denke, es gibt kaum etwas Demokratischeres als das."
Zwei junge Erstwählerinnen meinen: "Es ist ein gutes Beispiel, wie sich unser Land momentan anfühlt: sehr gespalten." Der Ablauf sei interessant. "Aber es ist auch irgendwie traurig, dieses Schauspiel mit anzusehen. Für die Abgeordneten gäbe es wichtigere Dinge zu tun."
Ist ein Kompromisskandidat die Lösung?
Um 12 Uhr Ortszeit kommt das Repräsentantenhaus heute erneut zusammen. Inzwischen schlagen erste Demokraten vor, einen moderaten Republikaner als parteiübergreifenden Kompromisskandidaten zu suchen. "Ich bin offen, einen der Republikaner in Betracht zu ziehen, wenn sie gewisse wichtige Zugeständnisse machen", sagt etwa der Demokrat Ro Khanna bei CNN. Doch noch sind das Einzelstimmen, die meisten Demokraten bleiben der Meinung, die Republikaner müssten das Sprecherproblem allein lösen.
McCarthy setzt offenbar auf eine Sitzungsunterbrechung über das Wochenende, um Zeit zu gewinnen und erst nächste Woche weiter abstimmen zu lassen. Reportern im Kongress sagte er am Abend, er werde ohne Zeitbegrenzung weiterkämpfen: "Ich mag es, Geschichte zu schreiben."