US-Wahl 2020
Interview

ARD-Wahlexperte zur US-Wahl "Aus dem Rennen ist Trump noch nicht"

Stand: 03.11.2020 12:39 Uhr

Zwar steht der Demokrat Biden besser da als Hillary Clinton 2016, aber US-Präsident Trump hat noch eine - geringe - Chance, sagt ARD-Wahlexperte Jörg Schönenborn. Und: Bei dieser Wahl gehe es auch um die Zukunft der Demokratie.

tagesschau.de: Herr Schönenborn, die wichtigste Frage zuerst: Wer wird - wahrscheinlich - der nächste Präsident der Vereinigten Staaten?

Jörg Schönenborn: Ganz sicher ein Mann über 70 und ganz sicher der älteste US-Präsident, der je eine Amtszeit begonnen hat. Und sonst kann ich sagen, dass die Chancen für den Demokraten Joe Biden dieses Mal ein gutes Stück besser sind als von Hillary Clinton vor vier Jahren. Sicher ist der Ausgang aber nicht - Chance heißt ja, dass man auch verlieren kann. Trump hat zwar geringere Chancen, aber aus dem Rennen ist er nicht.  

tagesschau.de: Das liegt auch an den Besonderheiten des US-Wahlsystems - Stichwort Battleground- und Swing States - also Staaten, die besonders umkämpft sind und mal demokratisch, mal republikanisch wählen. Ein ganz besonders wichtiger Staat ist Florida. Joe Biden hat sinngemäß gesagt: Wenn Florida für ihn stimmt, hat er gewonnen. Hat er Recht?

Schönenborn: Ich teile diese Einschätzung. Florida ist ein Indikator-Staat. Dort gab es seit zehn Jahren keine Wahl mit mehr als rund einem Prozentpunkt Unterschied - ganz egal, ob ein Präsident oder ein Gouverneur gewählt wurde. Florida steht in den Umfragen haarscharf auf der Kippe. Wenn da ein Kandidat gewinnt - sagen wir mit zwei Punkten Vorsprung - dann ist das der Trend für die Wahl. Weil die wichtigen Wählergruppen in Florida repräsentativ für das ganze Land sind. Das sind zum Beispiel Senioren, die Trump vor vier Jahren stark unterstützt haben. Heute haben diese Wähler Angst vor Covid-19 und sind eher nicht mit Trumps Krisenmanagement einverstanden. Senioren sind in Florida eine ganz wichtige Gruppe - aber sie sind zum Beispiel auch im Mittleren Westen stark vertreten.

Jörg Schönenborn
Zur Person

Jörg Schönenborn ist seit 2014 WDR-Programmdirektor. Der Wahlexperte war zuvor seit 2002 Chefredakteur des WDR Fernsehens. Schönenborn moderiert zudem den Presseclub im Ersten. Bekannt ist er dem Publikum seit 1998 vor allem als Wahlmoderator der ARD. 

tagesschau.de: Florida ist aber nicht der einzige Staat, der die Wahl entscheiden könnte…

Schönenborn: Es kommt darauf an, aus welcher Perspektive man schaut: Für Biden geht es darum, die sogenannte blaue Mauer wieder aufzubauen. Gemeint sind damit die Staaten im Nordosten der USA - Minnesota, Wisconsin, Michigan, Pennsylvania. Drei davon hatte Hillary Clinton 2016 verloren. Wenn Biden diese vier Staaten für die Demokraten gewinnt, dabei ehrlich ausgezählt wird und keine Gerichte das Ganze unterbrechen, dann wird Biden diese Wahl für sich entscheiden.

Darüber hinaus gibt es spannende demographische Veränderungen im Süden der USA. Die Demokraten haben in Staaten Chancen, in denen sie noch nie welche hatten.  

"Die Demoskopen haben dazugelernt"

tagesschau.de: 2016 sahen alle Umfragen Hillary Clinton als Siegerin, tatsächlich wurde es dann Trump. Kann das wieder passieren oder ist die Ausgangslage dieses Mal eine andere?

Schönenborn: Unsere Erinnerung trügt da ein bisschen. In der landesweiten Umfragelandschaft lag Hillary Clinton am Wahltag mit drei Prozentpunkten vorn, gewonnen hat sie die sogenannte "Popular Vote" letztlich mit zwei Prozentpunkten. Das heißt: Auf US-Ebene haben die Umfragen statistisch eine Punktlandung hingelegt.

Was damals viele ausgeblendet haben: Umfragen in den einzelnen Bundesstaaten haben oft viel größere Abweichungen. Und: Bis 2016 hatte die amerikanische Demoskopie nie auf den Bildungsgrad geschaut. Weiße Hochschulabsolventen haben immer gewählt wie weiße Arbeiter. Da haben die Umfrageinstitute dazugelernt und differenzieren jetzt stärker.

Das Vertrauen in den Wahlprozess schwindet

tagesschau.de: Es haben ja bereits vor dem 3. November sehr viele Menschen ihre Stimme abgegeben. Nützt das einem der Kandidaten?

Schönenborn: Das gehört zu den Unsicherheiten dieser Wahl und ist auch für Demoskopen Neuland. Es gibt zwar die begründete Vermutung, dass die Demokraten stark für die Briefwahl mobilisiert haben. Aber es ist eine Vermutung. Also klare Antwort: Man weiß es nicht. Wenn es eine Überraschung mit Blick auf die Umfragen geben sollte, hätte sie sicherlich damit zu tun.

tagesschau.de: Nun macht US-Präsident Trump seit Monaten Front gegen die Briefwahl und erklärt immer wieder, er könne nur bei massiven Wahlbetrug verlieren. Spaltet das die Gesellschaft noch einmal weiter?

Schönenborn: Trump ist überhaupt nur möglich gewesen, weil die amerikanische Gesellschaft seit etwa 30 Jahren zunehmend gespalten ist. Was sich aus meiner Sicht jetzt verschoben hat, ist das Vertrauen in den Wahlprozess. Ich halte es für brandgefährlich, wenn ein Präsident das heiligste, was es in einer Demokratie gibt - nämlich die Integrität des Wahlprozesses - infrage stellt. Und ein doch erheblicher Teil der Wählerschaft glaubt ihm, dass die Wahlen manipuliert werden, dass nicht richtig ausgezählt wird. Das halte ich für die entscheidende Veränderung.

Clinton senkt den Kopf

Kandidatin Clinton (2016): In den Umfragen vorne - und trotzdem verloren

tagesschau.de: Da schließt sich die Frage an: Was geschieht, wenn Trump nicht nur den Prozess infrage stellt, sondern die Wahl - zumal bei einem knappen Ergebnis - nicht anerkennt?

Schönenborn: Der Ball liegt dann spätestens ab Ende der Woche bei den Gerichten und irgendwann auch beim Obersten Gerichtshof. Wie der sich mit einer neuen, noch konservativeren Mehrheit verhält, ist höchst fraglich.

Ich glaube, dass auch ein Oberster Gerichtshof nicht gegen deutliche Mehrheiten entscheiden kann. Bei einem knappen Ergebnis dürfte die Entscheidung aber wirklich bei den Richtern liegen.

Wirtschaft vs Corona-Management

tagesschau.de: Sie und ihr Team werten vor Wahlen ja stets eine ganze Reihe von Umfragen aus - zu Wählergruppen, Themen, Politikerkompetenzen. Welche sind vor dieser Wahl die spannendsten?

Schönenborn: Es ist eine Wahl "Ökonomie gegen Pandemie". Die Wähler halten Trump zugute, dass er vor der Pandemie die niedrigste Arbeitslosigkeit seit 50 Jahren erreicht hatte. Und sie kreiden ihm nicht an, dass seitdem die Wirtschaft zusammengebrochen ist. Das ist auf Trumps Habenseite.

Auf der anderen Seite gibt es gerade bei den Älteren massive Kritik am Management der Corona-Pandemie. Ökonomie und Pandemie - das sind die wirklich entscheidenden Themen dieser Wahl.

Aber noch etwas anderes wird diese Wahl stark prägen: In den USA verschiebt sich gerade die Zusammensetzung der Bevölkerung in einem Maß, das wir uns nicht vorstellen können. Phoenix in Arizona zum Beispiel verzeichnet jeden Tag 250 zusätzliche Einwohner, die aus anderen Bundesstaaten kommen. Viele davon sind hochgebildete Hispanics, die wählen dürfen. Diese Gruppe wird dieses Mal eine besonders wichtige Rolle spielen.

tagesschau.de: Heißt das auch, dass der Kampf gegen Rassismus und Polizeigewalt gegen Schwarze - Stichwort "Black Lives Matter" - gar keine so große Rolle spielt?

Schönenborn: Die Unterstützung für "Black Lives Matter" ist seit dem Frühsommer wieder deutlich zurückgegangen. Aber das Empfinden, dass Schwarze benachteiligt werden, ist - anders als vor etwa 20 Jahren - ein großes Mehrheitsempfinden.

Und die Überzeugung, dass man Bürgerrechte auch für Schwarze wirklich durchsetzen muss, vertritt heute eine breite Mehrheit. Das könnte bei einer wichtigen Gruppe entscheidend sein - nämlich bei den "suburban women", den Frauen aus den Vororten. Viele von ihnen haben mittlerweile asiatische oder mexikanische Nachbarinnen. Diese Frauen haben Trump 2016 sehr stark unterstützt. Wenn es dort jetzt für ihn bröckelt, hat das mit dem Thema Gleichstellung und Gleichbehandlung zu tun.  

Es steht viel auf dem Spiel

tagesschau.de: Sie haben für die ARD schon einige US-Wahlen begleitet. Alles Routine - oder ist diese Wahl doch etwas Besonderes?

Schönenborn: Ich habe bei dieser Wahl wirklich das Gefühl, dass es um die Zukunft der Demokratie geht. Dabei ist nicht entscheidend, wer diese Wahl gewinnt, sondern wie sie abläuft. Wenn wir am Ende in der wichtigsten Demokratie der Welt eine Wahl gehabt haben sollten, auf deren Ergebnis man sich nicht einigen kann, dann wäre das eine wirkliche Katastrophe. Ich möchte mir nicht vorstellen, wie weit das ausstrahlt.

Die Fragen stellte Jan Oltmanns, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete "US-Wahl 2020" am 03. November 2020 ab 22:50 Uhr im Ersten.