Flucht aus Bergkarabach Erschöpft nach tagelanger Tortur
Am Wochenende werden die letzten Flüchtlinge aus Bergkarabach in Armenien erwartet. Wenn sie ankommen, haben sie eine Tortur hinter sich. Zur Verzweiflung und Trauer kommen Wut und Entschlossenheit.
Zwei Frauen Anfang 30 sitzen erschöpft im Schatten eines Zelts aus Flecktarnstoff. Narine und Gajane sind zwei armenische Jungunternehmerinnen und als Freiwillige an die Grenze zu Aserbaidschan gekommen.
Seit Tagen geben sie Brot, Obst und Getränke an die aus, die in Autos, Bussen und auf den Ladeflächen von Lkw die zweitägige Tortur durch den Latschin-Korridor auf aserbaidschanischem Gebiet überstanden haben. Die beiden Frauen sind zwei von etwa hundert, die sich privat auf den Weg gemacht haben, um am ersten Haltepunkt auf armenischer Seite Hilfe zu leisten.
Narine erzählt, ihre Großeltern stammten aus Bergkarabach, wohnten aber schon länger in Armenien. Sie sei froh, dass die beiden diesen Exodus aus ihrer Heimat nicht erleben müssten, sagt sie weinend. Auch ihrer Freundin rollen Tränen über die Wangen. Für sie sei es herzzerreißend, dass sie auf lange Zeit nicht mehr nach Bergkarabach könnten.
Der Latschin-Korridor ist die einzige Verbindung zwischen Bergkarabach und Armenien.
Einzige Verbindung
Dessen gebirgige Silhouette zeichnet sich im Dunst ab. Ein heller, ockerfarbener Streifen durchzieht die kargen Berge davor - die Straße des Latschin-Korridors. Diese einzige Verbindung zwischen Bergkarabach und Armenien hatte Aserbaidschan in den vergangenen Monaten blockiert und die Versorgung mit Strom und Gas aus Armenien unterbrochen.
In einem weißen Plastikzelt wenige Meter neben den Zelten der Freiwilligen leistet das armenische Rote Kreuz erste Hilfe. Auf die Frage nach der Zahl der behandelten Patienten bricht aus einer Arzthelferin Ende 40 die Wut hervor. "Armenien ist die älteste christliche Nation der Welt. Wo bleibt die Nächstenliebe all der anderen christlichen Nationen? Wir werden hier allein gelassen beim zweiten Genozid an uns Armeniern", schimpft sie und erinnert an den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich im Jahr 1915.
Noch bis zum Freitag kamen nach Schätzungen stündlich mehr als 1.000 Menschen an. Die aserbaidschanischen Grenzbeamten gaben es inzwischen auf, die Papiere der Ankommenden zu kontrollieren. Sie hätten nur die Personen in den Autos gezählt und kurz den Kofferraum geöffnet, erzählen mehrere.
Erstes Wiedersehen nach der Flucht
An der Straße zum nächstgrößeren Ort Goris machen viele Autos halt, die Insassen ruhen sich hinter Bäumen auf den angrenzenden Feldern aus. Zwei junge Männer umarmen sich, es ist ihr erstes Wiedersehen nach der überstürzten Flucht.
In den Kofferräumen und auf den Dächern haben die Flüchtenden verstaut, was sie gerade noch mitnehmen konnten - Kleidung, Kissen, Decken, Haushaltsgegenstände. Auf einem Autodach türmt sich ein Fitnessgerät, über die Heckscheibe eines anderen Autos ragt die Verpackung eines TV-Bildschirms hinaus.
An der ersten Tankstelle auf dem Weg nach Goris stauen sich die Fahrzeuge. Inga, 46, steht etwas abseits umringt von kleinen Kindern und zwei Frauen. Sie ist aus Stepanakert, der Hauptstadt Bergkarabachs.
Sie hätten ihre ältere Nachbarin mitgenommen, die kein eigenes Auto habe. Nun wüssten sie alle nicht, wo sie unterkommen können. Ob sie sich eines Tages eine Rückkehr vorstellen könne? Nicht, solange die Aserbaidschaner dort das Sagen hätten, antwortet Inga. Sie habe fast 20 Jahre als Soldatin gedient.
Geflohen, nachdem Soldaten eine Frau erschossen haben
Die Menschen in den Autos sind müde, gestresst und getrieben von existenziellen Sorgen. Sie wissen etwa nicht, ob sie Zugriff auf ihre Guthaben bei der Bank in Bergkarabach bekommen werden. Die armenische Regierung stellt den Vertriebenen nun pro Person ein Guthaben von umgerechnet knapp 250 Euro bereit, außerdem für ein halbes Jahr einen kostenlosen Handyvertrag und freien Transport in öffentlichen Verkehrsmitteln.
Doch dafür müssen sie sich registrieren, die Möglichkeit dazu gibt es in Goris. Schon auf dem Weg dorthin bleiben viele Autos liegen. Der 69-jährige Serjschek ist auf der Suche nach einem Ersatzteil. Er kommt aus der Ortschaft Martuni in Bergkarabach. Sie seien mit wenig mehr als ihren Dokumenten und einigen Fotos geflohen, nachdem aserbaidschanische Soldaten eine Frau erschossen hätten.
Auf dem Weg nach Stepanakert seien sie von aserbaidschanischen Journalisten angehalten und befragt worden. Diese hätten argumentiert, dass man doch friedlich miteinander leben könne. Serjschek bricht in Tränen aus. Ja, er habe zu Sowjetzeiten in Baku studiert und noch Jahrzehnte später Studienfreunde in Moskau getroffen. Doch das sei vorbei.
In Goris kommen die Menschen aus Bergkarabach an und werden erst einmal versorgt.
Hilfe für die Flüchtlinge
Um den zentralen Platz in Goris stauen sich die Fahrzeuge der Ankömmlinge. Das Rote Kreuz und das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen haben Zelte errichtet. Alte Menschen sitzen teilnahmslos und mit leerem Blick zwischen ihren Habseligkeiten. Dazwischen spielen Kinder Fangen, ihre Eltern telefonieren.
Viele Einwohner in Goris und anderen Orten helfen. Die Verkäuferin eines Textilladens erzählt, dass sie Kinderkleidung bereitstellten. Auch sie kann angesichts der Tragödie die Tränen nicht zurückhalten. Ein Restaurantbesitzer wendet sich ab, weil ihm die Tränen die Stimme nehmen.
Am Wochenende werden die letzten Flüchtlinge aus Bergkarabach erwartet. Die Vereinten Nationen rechnen damit, dass dann die Zahl von 120.000 erreicht wird.
Auf dem Weg nach Eriwan
Viele Geflüchtete machen sich auch noch am Abend auf den Weg in die Hauptstadt Eriwan. Im Dunkeln überholen sich übermüdete und gestresste Fahrer in halsbrecherischen Manövern, mehrmals kommt es zu Unfällen. Eine Familie fährt trotz einer Beule und gesplitterter Scheibe in der Fahrertür weiter.
Viele werden nun für einige Zeit bei Angehörigen unterkommen. Doch langfristig brauchen sie Wohnungen und Arbeit. Der Großteil der Armenier in Bergkarabach arbeitete als Bauern, wenige Menschen im Dienstleistungssektor. Bedarf an Arbeitskräften gibt es in Armenien, doch dafür müssten sich die Geflüchteten qualifizieren lassen.
Die 13-jährige Anusch weiß, was sie werden will: Ärztin. Damit sie im nächsten Krieg helfen könne, wenn die Armenier Bergkarabach zurückeroberten, sagt sie.