LGBT in China Yuze Mas tägliche Gratwanderung
Yuze Ma ist Student und tritt nachts in Shanghai als Drag Queen auf. Weder Eltern noch Kommilitonen dürfen das wissen - und auch im Internet bleiben LGBT-Gruppen in China immer weniger Freiräume.
Zuletzt passierte es Anfang November: "Wir bedauern zutiefst, allen mitteilen zu müssen, dass Queer Advocacy Online seine gesamte Arbeit auf unbestimmte Zeit einstellen wird", hieß es in einem letzten Post. Die chinesischen Social Media-Auftritte von "LGBT Rights Advocacy China" sind seitdem offline. Die Mitglieder der Interessensvertretung für die Rechte schwuler, lesbischer, bisexueller und transgeschlechtlicher Chinesinnen und Chinesen wollten dies nicht kommentieren, wie die Nachrichtenagentur AP berichtete.
Es ist ein weiterer Fall von vielen, die zeigen wie der Druck der Behörden wächst: Schon vergangenes Jahr beendete "Shanghai Pride" nach elf Jahren ein alljährliches Event mit Partys, Ausstellungen und Sportveranstaltungen. Auch hier ohne offizielle Begründung.
Jedes Anderssein im Visier der Behörden
Dieses Jahr im Sommer nahm WeChat - das chinesische Pendant zu WhatsApp und Facebook - gleich mehrere Seiten offline, die von Studierenden oder gemeinnützigen Gruppen zu LGBT-Themen betrieben wurden. "Das ist Teil der regelmäßigen Zensur, denn die Behörden in China bewerten LGBT als 'schädlichen Inhalt'; etwa so wie Pornoseiten, die auch verboten sind", erklärt Li Maizi. Sie bezeichnet sich selbst als Feminismus- und LGBT-Aktivistin und ist eine der wenigen in China, die sich offen für die Interessen sexueller Minderheiten einsetzt.
"Außerdem fürchten unsere Behörden alle Menschen, die sich zusammenschließen. Wenn also LGBT-Gruppen von Studierenden an Universitäten an Einfluss gewinnen, wird das als mögliche Bedrohung gesehen", sagt Li Maizi. Jede Abweichung und jedes Anderssein gerate sofort ins Visier der Behörden.
Nur 15 Prozent wagen das Coming-Out
Erst im Jahr 2001 wurde Homosexualität von einer offiziellen Liste psychischer Störungen gestrichen. Doch die Mehrheit der Menschen aus der LGBT-Community hält ihre sexuelle Orientierung geheim. In einer landesweiten Studie der Vereinten Nationen zusammen mit der Peking-Universität aus dem Jahr 2016 heißt es: "Nur etwa 15 Prozent haben den Mut zu einem Coming-out in ihrer Familie." In der Schule oder am Arbeitsplatz seien es nur fünf Prozent. "Mehr als die Hälfte der Personen, die einer sexuellen Minderheit angehören, geben an, ungerecht behandelt oder diskriminiert worden zu sein", heißt es in der Studie.
Drag Queens bei "Voguing Shanghai".
Yuze Ma erlebt jeden Tag als Gratwanderung. Der 21-jährige Student hat seit zwei Jahren einen Freund, der als Lehrer arbeitet und in der Schule geheim hält, dass er schwul ist - aus Angst, den Job zu verlieren. Yuze Ma selbst teilt sich mit fünf weiteren Studenten ein Wohnheim-Zimmer, da lässt sich kaum etwas geheim halten. Seine Kommilitonen wissen Bescheid, behandeln ihn freundschaftlich und nennen ihn "Schwester Ma". Aber sonst soll niemand an er Universität etwas erfahren.
Auch seinem Vater sagt der Student nichts, nur seine Mutter wisse Bescheid. Doch richtig offen kann er auch mit ihr nicht reden, es bleibe bei Andeutungen. Außerdem habe seine Mutter ständig Angst um ihn, erklärt Yuze Ma: "Eltern sind besorgt, dass die Gesellschaft einem wehtut und einen nicht anerkennt. Meine Mutter weiß ja auch, wie schwierig es für uns ist, inmitten einer solchen Gesellschaft zu leben."
"Wer mich liebt, komme her, alle anderen: Bleibt weg!"
Dass Yuze Ma eine Karriere als Drag Queen anstrebt, ist sein Geheimnis. Er achtet stets darauf, was er bei Social Media postet. Fotos von einem Drag- Queen-Event in voller Verkleidung als schillernde Diva in Unterwäsche kommen nicht infrage. Auch wenn er sich bei diesen Auftritten wie verwandelt fühlt: "Als wäre ich ein oder zwei Meter größer. Ich fühle mich dann stark und nicht aufzuhalten, mit einer Aura wie eine Königin! Voller Zuversicht. Wer mich liebt, komme her, alle anderen: Bleibt weg!", sagt Yuze Ma, als er sich gerade für den abendlichen Auftritt schminkt und künstliche Wimpern anklebt.
Abends ist der Student bei "Voguing Shanghai" auf dem Laufsteg. Ein bunter Wettbewerb, bei dem sich halbjährlich die LGBT-Szene trifft, Spaß hat und feiert. Plakate, Reden oder andere Statements, die Gleichberechtigung für LGBT-Menschen in China fordern, findet man bei diesem Event nicht. Das wäre zu heikel, denn jede Form der politischen Äußerung würde schnell die Behörden auf den Plan rufen. Dann hätte auch dieses Event keine Zukunft mehr.
Yuze Ma will seinen eigenen Weg gehen. Ohne anzuecken, aber auch ohne seine sexuelle Orientierung zu verleugnen. Eine schwierige Gratwanderung in China - jeden Tag aufs Neue.
Diese und weitere Reportagen sehen Sie am 28.11.2021 im "Weltspiegel", ab 19.20 Uhr im Ersten.