Evakuierung des Gazastreifens "Das ist Chaos, niemand versteht, was zu tun ist"
Israels Aufforderung, den Norden des Gazastreifens innerhalb von 24 Stunden zu verlassen, hat Panik ausgelöst. Menschen versuchen verzweifelt, in den Süden zu gelangen. Hilfsorganisationen warnen: Eine Evakuierung in solch kurzer Zeit sei unmöglich.
Nach der Aufforderung Israels, den Norden des Gazastreifens innerhalb von 24 Stunden zu verlassen, kommt es offenbar zu chaotischen Zuständen. "Das ist Chaos, niemand versteht, was zu tun ist", sagte Inas Hamdan, eine Mitarbeiterin des UN-Hilfswerks für Palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) im Gazastreifen.
Sie packte nach einigen Angaben für die Flucht Habseligkeiten in ihre Taschen. Das gesamte UN-Personal in Gaza-Stadt und im Norden des Küstengebiets sei aufgefordert worden, Richtung Süden nach Rafah zu fliehen.
Auch der ARD-Korrespondent Christian Limpert berichtet von chaotischen Zuständen. "Die Menschen wissen einfach gar nicht, wo sie Schutz suchen sollen." Es sei völlig unklar, wie diese Anzahl an Menschen so schnell in den Süden gebracht werden könne.
Zu viele Menschen, zu wenig Zeit zur Evakuierung
"Vergesst Nahrungsmittel, vergesst Strom, vergesst Kraftstoff, die einzige Sorge ist jetzt nur, ob du es schafft, ob du leben wirst", sagte Nebal Farsach, Sprecherin des Palästinensischen Roten Halbmonds in Gaza-Stadt, unter Tränen. Es sei unmöglich, 1,2 Millionen Menschen auf sichere Weise zu evakuieren.
Imad Abu Alaa, ein für Notunterkünfte im nördlichen Gazastreifen zuständiger UNRWA-Mitarbeiter, äußerte sich ähnlich. Es seien viel zu viele Menschen, die in zu kurzer Zeit evakuiert werden sollen, was nicht zu bewerkstelligen sei. "Was ist mit UN-Notunterkünften? Wir reden von Zivilisten. Plötzlich zählt das gar nicht mehr?"
Die meisten Bewohnerinnen und Bewohner hätten noch immer keine direkte Anweisung vom Militär gehört, die Gegend zu verlassen, schilderten Bewohner der Nachrichtenagentur AP. Doch mache sich langsam Panik breit, da Mitarbeiter von UN-Organisationen und anderen internationalen Gruppen von ihren Vorgesetzten erfahren hätten, dass die Menschen sofort in Richtung Süden fliehen sollten. Ob es humanitäre Fluchtkorridore gebe, wisse man jedoch nicht.
Farsach vom Palästinensischen Halbmond ergänzte, dass es Patienten in Krankenhäusern gebe, die sich unter den aktuellen Bedingungen nicht verlegen ließen. Viele medizinische Fachkräfte weigerten sich zudem, zu gehen. Sie wollten ihre Patientinnen und Patienten nicht im Stich lassen. Stattdessen hätten diese Ärzte ihre Kollegen angerufen, um sich von ihnen zu verabschieden.
Christian Limpert, ARD Tel Aviv, zur Lage in Gaza kurz vor der möglichen israelischen Bodenoffensive
Armee: Evakuierung so weit wie möglich sichern
Israels Armee will die Evakuierung der Einwohner nach Angaben eines Sprechers so sicher wie möglich machen. Es sei Israel klar, dass eine Evakuierung mehr als 24 Stunden dauern würde, sagte der israelische Militärsprecher Daniel Hagari. Er nannte aber keinen klaren Zeitrahmen. Man habe die Einwohner den Aufruf auf verschiedenen Kanälen übermittelt. Man werde auch alles unternehmen, um sensible Orte wie Krankenhäuser bei Luftangriffen nicht zu treffen, sagte Hagari.
Hälfte der Bevölkerung betroffen
Israel hatte mehr als eine Million Menschen zur Evakuierung aufgerufen - das sind etwa die Hälfte der 2,3 Millionen Einwohner des Gazastreifens. "Bewohner von Gaza-Stadt, verlassen Sie die Stadt zu ihrer eigenen Sicherheit und der ihrer Familien nach Süden und entfernen sie sich von Hamas-Terroristen, die sie als menschliche Schutzschilde benutzen", teilte das israelische Militär mit. Die Armee werde in den kommenden Tagen in Gaza-Stadt in beträchtlichem Maße vorgehen. Die Terroristen versteckten sich in der Stadt in Tunneln unter Gebäuden und in Gebäuden, die von Zivilisten bewohnt würden.
Bislang wurden laut israelischen Angaben mehr als 6.000 Bomben über den Palästinensergebieten abgeworfen. Vor allem die Infrastruktur der Hamas soll zerstört werden. Gaza ist abgeriegelt - kein Trinkwasser, keine Lebensmittel, kein Strom ist verfügbar. Die Abriegelung wird nach Armeeangaben so lange dauern, bis die durch die Hamas verschleppten Menschen wieder freigelassen würden. Die Bewohner aus dem Norden Gazas könnten erst zurückkehren, wenn Israel dies mitteile.
Hamas fordert Menschen auf zu bleiben
Während viele der mehr als eine Million Menschen versuchen zu fliehen, hat die Hamas die Bevölkerung aufgefordert, den israelischen Aufruf zu ignorieren. Die Bewohnerinnen und Bewohner sollten "standhaft in ihren Häusern bleiben" und der "abscheulichen psychologischen Kriegsführung der Besatzung standhalten", mahnte die Behörde der Hamas für Flüchtlingsangelegenheiten.
Es gibt Berichte, wonach die Islamisten Menschen aktiv an der Flucht hindern sollen. Derzeit sei unklar, ob das stimme, sagte ARD-Korrespondent Limpert. "Es ist nicht so, dass die Hamas dort mit bewaffneten Kämpfern die eigene Bevölkerung kontrolliert." Dafür sei die Situation nach dem massiven Bombardement in den letzten Tagen zu chaotisch. Klar sei jedoch, dass es eine der Strategien der Hamas sei, Bilder von zivilen Opfern in die Welt zu tragen.