Analyse zu Boko Haram Terrormafia mit religiöser Fassade
Nicht nur Nigerias Präsident Jonathan hat Boko Haram lange unterschätzt. Inzwischen überzieht die Miliz die gesamte Region mit Terror, und der Kampf gegen sie wird immer schwieriger. Dabei ist der Dschihad nur Fassade, es geht um Macht und Geld.
In schwarzem Gewand und mit grünem Kopftuch sitzt Boko-Haram-Chef Abubakar Shekau gelassen vor der Kamera, auf den Knien die obligatorische Kalaschnikow. Am rechten oberen Bildrand weht eingeblendet die animierte schwarze Fahne des Dschihad. Das neueste Internet-Video des nigerianischen Terrorführers, perfekt inszeniert und auf Englisch und Arabisch untertitelt, ist besonders aufschlussreich.
Denn in der knapp zwölfminütigen Botschaft ist Nigeria kaum Thema - die auf Ende März verschobene Präsidentschaftswahl erwähnt Abubakar Shekau nur am Rande. Stattdessen droht er ausführlich der ganzen Welt: den USA, Deutschland, Israel, Frankreich - vor allem aber Nigerias Nachbarstaaten: "Mahamadou Issoufou, Präsident des Niger, Idris Déby, Präsident des Tschad, all ihr anderen Führer Afrikas: Seht ihr nicht, wie Euer nigerianischer Amtskollege Goodluck Jonathan mit seinem Kampf gegen uns gescheitert ist? Glaubt Ihr ernsthaft, Ihr könnt es mit uns aufnehmen?"
Terrorexport in die Nachbarländer
Zwar überzieht Boko Haram den Norden Nigerias weiter mit Terror: Dörfer werden niedergebrannt, Bomben explodieren an Bushaltestellen und auf Märkten und reißen zahllose Menschen in den Tod; selbst kleine Mädchen werden gezwungen, sich mit Bomben am Leib in die Luft zu sprengen.
Doch in den vergangenen Monaten hat die Gruppe ihre Angriffe auf Kamerun, den Niger und auch auf den Tschad ausgedehnt - die betroffenen Länder bekämpfen die Terroristen sogar auf Nigerias Staatsgebiet. Besonders kamerunische und tschadische Einheiten haben die Sache bislang in die Hand genommen - aus gutem Grund: Schließlich wird ein Großteil des Öls aus dem Tschad über Kamerun an die Küste exportiert, und auf das schwarze Gold könnte Boko Haram es abgesehen haben.
"Boko Haram wurde auf allen Ebenen unterschätzt"
Jetzt soll es eine Eingreiftruppe von fast 9000 Mann gegen Boko Haram richten. Die Soldaten dafür kommen aus Nigeria, Benin, Kamerun, Niger und Tschad. Letzteren wollen die USA und Frankreich mit massiver Militärhilfe zum Vorposten im Kampf gegen den Terror ausbauen. Fest steht: Boko Haram hält mittlerweile die gesamte Region in Atem.
"Boko Haram ist längst eine regionale Bedrohung", sagt Nnamdi Obasi von der International Crisis Group. "Das liegt daran, dass die nigerianische Regierung diese Eskalation zugelassen hat. Auf allen Ebenen wurde Boko Haram unterschätzt, nicht nur auf der militärischen. All die Jahre hat niemand etwas gegen die Armut im Nordosten Nigerias getan, gegen die radikalen Koranschulen. So konnten die Terroristen immer weiter junge Männer rekrutieren, die nichts zu verlieren haben. Niemand hat verstanden, wie komplex dieses Problem Boko Haram wirklich ist."
PR-Vorbild "Islamischer Staat"
Heute ist Boko Haram ausgerüstet wie eine Armee. Auf 30.000 Mann oder mehr wird die Gruppe geschätzt, mittlerweile soll sie im Norden Nigerias ein Gebiet von der Größe Portugals kontrollieren und beste Kontakte zu Al Kaida im Islamischen Maghreb haben, zu den somalischen Dschihadisten von Al Schabaab, und möglicherweise auch zum "Islamischen Staat" in Syrien und im Irak.
Nicht ohne Grund seien in den letzten Boko-Haram-Videos auch Bilder von IS-Chef Abu Bakr al Baghdadi zu sehen gewesen, so der Buchautor und Nigeria-Experte Marc Engelhardt: "Abubakar Shekau hat ja im vergangenen Jahr verkündet, dass er sich mit dem 'Islamischen Staat' verbünden möchte, das war eine Erklärung von seiner Seite. Es spricht eben einiges dafür, dass die Informationspolitik vom IS, die ja wirklich hochprofessionell ist, tatsächlich auch von Boko Haram kopiert wird. Das ist vom ganzen Erscheinungsbild her unglaublich ähnlich, und das halte ich nicht für einen Zufall."
Vorbild für Boko Haram: Der Chef des "Islamischen Staats", Abu Bakr al-Baghdadi
Opportunismus und Geschäftemacherei
"Begonnen hat es mit einem Messer in der Hand", sagt Ignatius Kaigama, Erzbischof von Jos. Vor zwölf Jahren mag Boko Haram noch eine kleine Gruppe radikaler Islamisten gewesen sein, die sich im Nordosten Nigerias gegen die ethnische Übermacht der Hausa und Fulani in den Provinzregierungen wehrte. Aber schon damals hatte sie lukrative Verbindungen zu einflussreichen lokalen Politikern, ließ sich für Schlägertrupps und Wahlkampfhilfe bezahlen - von der Partei, die gerade am machtpolitischen Drücker war.
Opportunismus und Geschäftemacherei - das passt so gar nicht zum verbreiteten Dschihadisten-Image der Gruppe, deren Name auf Deutsch "westliche Bildung ist Sünde" bedeutet, und die nach eigenen Worten das grenzüberschreitende Kalifat von Sokoto aus dem 19. Jahrhundert neu gründen will - mit den strengen Gesetzen der Scharia.
"Das Kalifat ist nur Fassade"
Für Marc Engelhardt hat der Aufstand von Boko Haram jedenfalls viel mehr mit mafiösen Strukturen zu tun als mit einem vermeintlich Heiligen Krieg. "Also ich glaube, dass das ein tolles Narrativ ist, diese Geschichte vom Sokoto-Kalifat, von den goldenen Zeiten, die jetzt wieder auferstehen sollen mithilfe von Boko Haram", erklärt er. "Aber ich glaube eben, es ist nicht mehr als das: Es ist eine Fassade, die geschickt genutzt wird, um Kämpfer zu mobilisieren, um Zustimmung in der Bevölkerung zu generieren."
Tatsächlich aber stecke hinter dem Vormarsch von Boko Haram ein großes Profitinteresse, sagt Engelhardt, "vor allem, wenn es um kriminelle Geschäfte geht. Da werden Millionen generiert, die fließen in die Taschen einiger Anführer, denen der Koran auch sonst nicht heilig ist."
So sieht das auch der tschadische Präsident Idris Déby, der die Mitglieder von Boko Haram als die größten Feinde des Islam bezeichnet. Tatsache ist: Die Terrormafia Boko Haram funktioniert höchst weltlich und finanziert sich selbst: durch Bankraub, Schutzgeld, Entführungen, Drogen- und Waffenhandel. Und sie will ihre Einflusssphäre ausbauen.
Abhängigkeiten in Politik und Armee
Die Gruppe profitiert von Abhängigkeiten in der nigerianischen Politik, beim Militär. Viele Offiziere und Politiker haben kein Interesse daran, dass der Terror jemals endet. Ohne die kontinuierliche Bedrohung durch Boko Haram würden eben nicht Milliarden Naira für die Rüstung ausgegeben, ein Fünftel des gesamten Staatshaushalts.
Gezahlt wird das Geld auch, um Ruhe in der Armee zu erkaufen, in der es immer wieder gefährlich nach Putsch riecht. Unsummen versickern auf dem Weg zu den Soldaten in tausend dunklen Kanälen. Viele Waffen, die bei verhafteten Boko-Haram-Kämpfern sichergestellt wurden, stammen zwar aus Libyen. Doch auch korrupte nigerianische Offiziere haben bereits Waffen an Boko Haram verkauft - sogar Panzer.
Boko Haram entpuppt sich immer mehr als kriminelle Geldmaschine, aber auch als Produkt der nigerianischen Politik. Der nigerianische Staat scheint zum Zauberlehrling zu schrumpfen, der den bösen Bann nicht mehr los wird - und zusehen muss, wie er sich ausdehnt: auf die Nachbarstaaten.