Einigung in Brüssel Brexit-Deal auf wackeligen Füßen
"Wir haben einen Deal" - jubelten EU-Kommissionschef Juncker und der britische Premier Johnson. Für die EU ist er beschlossene Sache. Doch es bleiben große Fragezeichen.
Seit mehr als drei Jahren wird mittlerweile über den Brexit gestritten und verhandelt. Fast sah es schon so aus, als ob es nichts wird mit dem geregelten EU-Austritt Großbritanniens. Doch dann ging in letzter Minute auf einmal alles ganz schnell und am Ende stand ein neuer Kompromiss, der den No-Deal-Brexit verhindern soll.
In den Nachmittagsstunden kamen die Regierungschefs aller 28 EU-Mitgliedsstaaten zum EU-Gipfel zusammen. Auf dem Tisch lag ein neuer Brexit-Deal, auf den sich die EU und der britische Chefunterhändler David Frost in nächtlichen Marathon-Verhandlungen geeinigt hatten.
Nur etwas mehr als zwei Stunden später gaben alle 27 EU-Staaten - Großbritannien natürlich ausgenommen - ihre Zustimmung zu den neuen Beschlüssen. Damit muss der neue Deal nun noch vom EU-Parlament abgesegnet werden und vor allem das Votum im britischen Unterhaus überstehen, das am Samstag zu einer Sondersitzung zusammenkommen soll.
Alternative zum Backstop gefunden
Neben kleineren Punkten wie etwa einer Einigung zur Erhebung der Mehrwertsteuer war es vor allem der sogenannte Backstop, der bis zuletzt für Diskussionsstoff zwischen den Unterhändlern von EU und Großbritannien gesorgt hatte. Der britische Premierminister Boris Johnson hatte die offene Grenze zwischen Irland, das nach dem Brexit EU-Mitglied bleibt, und Nordirland, das austritt, immer abgelehnt.
Das neue Abkommen sieht in der Grenzfrage nun eine neue, aber etwas komplizierte Lösung vor: Nordirland hält sich weiter an bestimmte EU-Warenstandards und bleibt in einer speziellen Zollpartnerschaft in der EU und in der Zollunion des Vereinigten Königreichs. Die nordirische Volksvertretung soll zudem über vier Jahre nach Inkrafttreten der Vereinbarung und nach bestimmten Zeiträumen immer wieder darüber abstimmen können, ob sie weiter gelten soll.
Die "Quadratur des Kreises ist gelungen"
Die Erleichterung über den Kompromiss seitens der EU war groß. "Wo ein Wille ist, ist auch ein Deal", twitterte EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker und betonte, es gebe jetzt keinen Anlass mehr, den Brexit ein weiteres Mal zu verschieben.
Bundeskanzlerin Angela Merkel nahm nach der Abstimmung auf dem EU-Gipfel Bezug auf ihre Regierungserklärung, die sie noch am Morgen im Berliner Bundestag abgegeben hatte. Darin hatte sie den Brexit als "Quadratur des Kreises" bezeichnet. Diese sei nun recht gut gelungen, sagte Merkel, räumte aber ein:
Wir haben natürlich alle im Herzen, dass es kein freudiger Tag ist, denn ein Mitgliedsland scheidet aus der Europäischen Union aus.
EU denkt schon an Freihandelsabkommen
Für Merkel steht nun im Vordergrund, möglichst schnell ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und dem künftigen Nicht-Mitglied Großbritannien auszuhandeln.
Auch die EU denkt bereits in diese Richtung. Die dafür nötigen Verhandlungen soll laut der Nachrichtenagentur AFP ebenfalls Michel Barnier übernehmen, der momentane EU-Chefunterhändler in Sachen Brexit. Die designierte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen habe ihn gebeten, auch nach dem 31. Oktober - dem derzeitigen Datum des EU-Austritts - für ein weiteres Jahr im Amt zu bleiben.
Doch ob in absehbarer Zeit über etwas anderes debattiert werden kann, als über die Fragen wann und wie der Brexit kommt, hängt nun vom britischen Parlament ab. Hier hat Johnson mit seiner Tory-Fraktion keine Mehrheit. Die Zustimmung zum neuen Deal steht damit auf wackeligen Füßen. Bereits jetzt gibt es zahlreiche kritische Stimmen aus dem Vereinigten Königreich, etwa von der nordirisch-protestantischen DUP und der oppositionellen Labour-Partei.
Tür zu EU "wird immer offen stehen"
Johnson warb daher schon in Brüssel darum, dass die Abgeordneten dem "großartigen" Deal zustimmen sollten. Er glaube fest an eine positive Entscheidung für den Kompromiss. Es gebe nun keinen Grund mehr für weitere Verzögerungen, es sei Zeit, dass Großbritannien den EU-Austritt endlich abschließe.
Rückhalt erhielt Johnson vom irischen Ministerpräsidenten Leo Varadkar. Er stellte sich hinter das Abkommen und lobte die Verhandlungen, in denen die Stärke der Einigkeit der EU deutlich geworden sei. Gleichzeitig bedauere er den Austritt Großbritanniens , sagte Varadkar weiter. Es sei wie mit einem alten Freund, der auf eine Reise geht. Doch es werde immer "einen Platz am Tisch für das Vereinigte Königreich geben". Ähnlich äußerte sich auch EU-Ratspräsident Donald Tusk:
Unsere Tür wird immer offen stehen. Und ich hoffe, dass unsere britischen Freunde eines Tages entscheiden, zurückzukommen.
EU-Kommissionspräsident Juncker warnte vor den Folgen einer Ablehnung des Brexit-Abkommens im britischen Parlament. Wenn es in Westminister keine Zustimmung gebe, "dann sind wir in einer extrem komplizierten Situation", so Juncker. Eine erneute Verschiebung des für den 31. Oktober vorgesehenen Brexit-Datums hält Juncker nicht für nötig: "Wir sind der Meinung, dass man angesichts der Qualität des Deals keine Verlängerung braucht."