Christen im Irak Auf der Flucht im eigenen Land
Heute beraten die EU-Innenminister, ob christliche Flüchtlinge aus dem Irak nach Europa geholt werden sollen. Für viele dort verbliebene Christen wäre das die Rettung, für ihre Religion im Irak aber wäre es das sichere Aus.
Von Carsten Kühntopp, ARD-Hörfunkstudio Amman
Im kurdischen Nordosten des Iraks liegt am Fuß einer Bergkette das Dorf Tineh. 22 Flüchtlingsfamilien leben hier, Christen, die sich vor Gewalt in anderen Teilen des Landes in Sicherheit gebracht haben.
Sliwo Issa Yacoub musste vor drei Jahren Bagdad verlassen: "Wir hatten Angst, dass unsere Kinder entführt werden würden. Man hätte dann Lösegeld zahlen müssen, und dazu wären wir nicht in der Lage gewesen. Es gab Terror und Entführungen."
Yacoub sitzt im Wohnzimmer: Häkeldeckchen auf dem Sofa, die Mutter Gottes in Plastik auf dem Fernseher, an der Wand ein schwülstig-goldgerahmtes Bildnis Jesu - alles blitzblank geputzt, hell und aufgeräumt. Yacoub ist Mitte fünfzig und Vater von zwei Kindern. In Bagdad hatte die Familie ein gutes Leben, aber "hier haben wir keine Arbeit, es gibt keine Jobs. In Bagdad war ich Manager in einem Hotel, etwa 30 Jahre lang. Aber hier bin ich arbeitslos. Es gibt auch ein Problem mit der Sprache: Ich spreche kein Kurdisch."
"Schuld hat Al Kaida"
Doch an eine Rückkehr in die irakische Hauptstadt ist nicht zu denken. Nach wie vor ist die Lage unsicher, so Yacoub: "In bestimmten Vierteln Bagdads wie Dora und Mekaník wurde man bedroht: Entweder ihr konvertiert zum Islam oder ihr zahlt Schutzgeld - oder ihr geht weg!"
Wer immer das auch macht, sei gewiss kein Iraker, ist sich Yacoub sicher. "Das ist von außen gekommen, als Al Kaida kam. Wir haben 45 Jahre lang in Bagdad gelebt, und niemals hat irgendjemand was gesagt."
Je kleiner eine Minderheit im Irak ist, desto gefährdeter ist sie. Die irakischen Christen sind verwundbar, doch andere Minderheiten sind kleiner und deshalb noch gefährdeter.
Yonadam Kanna ist christlicher Abgeordneter im irakischen Parlament. Der Auffassung, dass vor allem oder ausschließlich Christen das Ziel von Gewalttätern seien, widerspricht er. Eine ethnische Säuberung finde nicht statt, sagt der Abgeordnete: "Wenn es ethnische Säuberungen gibt, dann müssen Sie mir helfen, mich dem zu widersetzen - anstatt indirekt demjenigen zu helfen, der die ethnische Säuberung ausführt."
Genau das geschehe aber, wenn nun in Brüssel gesagt würde: Kommt nach Europa. "Dann unterstützen Sie den, der gerade solchen Druck auf mich macht. Sie helfen den Fanatikern und Extremisten, mich aus dem Land zu verjagen! Stattdessen müssen Sie in die andere Richtung wirken!"
"Schlecht für Europa"
Die Diskussionen in Deutschland hat Kanna aufmerksam verfolgt. Mit vollendeter arabischer Höflichkeit sagt er, der Christ, zunächst, welch großen Respekt er für deutsche Spitzenpolitiker habe - doch dann holt er aus: "Als Deutsche geben Sie ein schlechtes Beispiel ab, wenn Sie so für Christen voreingenommen sind. Das ist auch schlecht für Europa, denn eigentlich ist Europa säkular, und es spielt dort keine Rolle, welchem Volk oder welcher Religion jemand angehört."
Niemand weiß genau, wie viele Christen noch im Irak leben. Bischof Raban al Kas vermutet, dass etwa jeder Dritte gegangen ist, jetzt lebe noch eine halbe Million im Irak; al Kas betreut die beiden Diözesen Erbil und Amadiye. Auch er ist entschieden gegen eine Ermunterung durch die Europäer, Irak jetzt zu verlassen: "Denn hier, in dieser Region, sind unsere Vergangenheit, unsere Gegenwart und unsere Zukunft. Jetzt müssen wir darauf warten, bis die Tage des Leidens vorbei sind, denn so, wie es jetzt ist, wird es nicht ewig sein. Wir haben viele Christen, die in Syrien und in Jordanien warten. Wenn möglich, sollten die Europäer diesen Menschen helfen, die nun im Ausland leben."
Vorwürfe an Politik und Klerus
Irakische Politiker und der Klerus sind sich also einig: Sollte Europa jetzt die Tore für christliche Flüchtlinge aus dem Irak öffnen, wäre das Christentum im Zweistromland am Ende.
Im Dorf Tineh aber verfängt diese Argumentation nicht. Sliwo Issa Yacoub, der arbeitslose Hotelmanager, glaubt, dass die Kirchenführer ganz anders sprechen würden, wenn sie so leben müssten wie die Flüchtlinge. "Die ersten, die gingen, waren die Geistlichen! Sie wollen jetzt verhindern, dass die Menschen weggehen, aber sie waren die ersten, die in die schönen Vororte von Erbil, nach Frankreich oder Kanada gingen! Wo sind sie denn jetzt alle? Sicherlich, einige von ihnen sind gute Menschen, die hiergeblieben sind und sich aufopfern, aber das sind nur wenige."