"Colonia Dignidad" Stundenlange Prügel mit Kupferkabeln
Sie wollten gottgefällig leben - und stießen auf einen brutalen Sektenführer. Bis heute warten die Opfer der "Colonia Dignidad" in Chile auf Gerechtigkeit. Nun machen deutsche Politiker Druck.
Das Kupferkabel ist daumendick und schwarz ummantelt. Harald Lindemann wiegt es in der Hand, während die Erinnerungen hochkommen, wie er als Kind damit verprügelt wurde. "Ein Knüppel brach nach einer halben Stunde ab, aber mit diesem Kabel konnten uns die Anführer der "Colonia Dignidad" zwei Stunden am Stück verprügeln", sagt der 59-Jährige. Die Narben und seelischen Schmerzen dieser Misshandlung spürt Lindemann seit Jahren.
Aber erst jetzt hat er den Mut gefasst, offen darüber zu sprechen. Er will sich Gehör verschaffen beim Besuch einer Delegation des Bundestags in Chile.
Brutal und hermetisch abgeriegelt
Als Zweijähriger begann Lindemanns Leben in der Sekte "Colonia Dignidad". Seine Eltern kamen in gutem Glauben an ein gottgefälliges Leben nach Chile. Doch der deutsche Sektenführer Paul Schäfer entpuppte sich schnell als brutaler Anführer, der Familien auseinander riss und Jungen sexuell missbrauchte. Die "Colonia Dignidad" war hermetisch abgeriegelt - eine Flucht schafften nur wenige. Diejenigen, die sich dabei nach Santiago de Chile durchschlugen, suchten Schutz in der deutschen Botschaft und erzählten den Diplomaten von ihrem Martyrium.
Harald Lindemann kam als Zweijähriger in die Sekte "Colonia Dignidad".
Doch anstatt zu helfen, schickten die Diplomaten die Geflüchteten zurück in die Fänge des pädophilen Schäfer. "Deutsche Diplomaten haben weggeschaut und zu wenig für die Opfer getan", gestand der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier 2016 ein. Doch seitdem ist kaum etwas passiert.
Jahrzehntelang weggeschaut
Es finden zwar Gespräche zwischen Chile und Deutschland auf Regierungsebene statt, jedoch bislang ohne konkrete Ergebnisse für die Opfer. Auch beim heutigen Treffen wird nicht mit einem Durchbruch gerechnet. Experten fordern seit Jahren den Bau eines Dokumentationszentrums und einer Gedenkstätte auf dem Gelände der Ex-Sekte sowie individuelle Entschädigungszahlungen. Vor allem Letzteres hat das Auswärtige Amt zurückgewiesen, obwohl die Bundesrepublik nachweislich jahrzehntelang weggeschaut hat.
Das empört die körperlich ausgezehrten Opfer am meisten. Fast allen fehlen Schulgeld für ihre Kinder, Mittel, um nötige Zahn-OPs zu zahlen, und Ersparnisse, die ihnen einen Lebensabend als Rentner ermöglichen würden. Deshalb droht die Grünen-Abgeordnete Renate Künast mit einer Haushaltssperre durch das Parlament, sollte das Auswärtige Amt nicht einlenken.
Künast ist mit Matthias Bartke (SPD) und Michael Brand (CDU) angereist, um den Druck auf die deutsche und chilenische Regierung zu erhöhen. Sie sollen endlich konkrete Maßnahmen ergreifen, um das Leid der Opfer zu mildern. "Es kann nicht sein, dass wir im Jahr 2018 das Auswärtige Amt antreiben müssen, damit es beim Thema "Colonia Dignidad" vorangeht", ist Brand sichtlich empört.
Deutsche Politiker vor Ort - sie wollen konkrete Maßnahmen erreichen, um das Leid der Opfer zu mildern.
Folter und Mord im Kartoffelkeller
In Chile besuchen sie auch den früheren Kartoffelkeller. Dort ließ Chiles Diktator Augusto Pinochet Regimegegner foltern und ermorden. Pinochet war ein Freund des Sektenführers Schäfer und nutzte das Sektengelände als geheimen Stützpunkt seines Geheimdienstes Dina. Der Kartoffelkeller wird derzeit als Werkstatt genutzt. Bis auf eine kleine Tafel erinnert nichts an die Gräuel, die hier einst passierten. "Wir müssen den Kartoffelkeller und große Flächen der "Colonia Dignidad" in einen Gedenkort und ein wissenschaftliches Dokumentationszentrum umwandeln", ist Künast überzeugt.
Tourismus am Massengrab
Nebenan im Zippelsaal, wo Lindemann unzählige Male mit Kupferkabeln verprügelt wurde, erinnert ebenso wenig an die Vergangenheit. Hier genießen Touristen deutsches Bier und Essen. Kurz darauf stehen die Bundestagsabgeordneten im Waldgrundstück der Ex-Sekte an einem Massengrab und legen Blumen nieder. Hier vermuten die Behörden noch immer Leichen und weitere Massengräber mit chilenischen Folteropfern, die bis heute irgendwo verscharrt liegen.
Bei der Suche nach ihnen und der Identifizierung möglicher Leichen müsse Deutschland helfen, fordern die Abgeordneten. "Es wird Zeit für einen Besuch von Außenminister Heiko Maas in der "Colonia Dignidad", um zu verstehen, was hier los ist", sagt Brand.
Auf dem Gelände leben auch frühere Getreue des Sektenführers wie Friedhelm Zeitner.
Ein solcher Besuch will aber gut vorbereitet sein. Die Gemengelage ist kompliziert. Neben Sektenopfern, die jahrzehntelang nachweislich gelitten haben, leben auf dem heutigen Gelände auch frühere Getreue des Sektenführers Schäfer - wie Friedhelm Zeitner. Als Schäfer vor der Strafverfolgung floh, war Zeitner dessen jahrelanger, treuer Fluchthelfer. Experten sind überzeugt, dass ein Hilfskonzept diese Unterschiede berücksichtigen muss, damit das Kapitel "Colonia Dignidad" endgültig aufgearbeitet werden kann.