Sperrzone Italien "Es gibt viel Unsicherheit"
Trotz drastischer Einschnitte ins öffentliche Leben reagieren die Italiener besonnen, sagt ARD-Korrespondent Seisselberg im tagesschau.de-Interview. Angst gebe es am ehesten in Bezug auf die Lebensmittelversorgung.
tagesschau.de: Ministerpräsident Giuseppe Conte hat ganz Italien zu einer Sperrzone erklärt. Wie reagieren die Italiener darauf?
Jörg Seisselberg: Die Menschen, mit denen ich gesprochen habe, haben Verständnis für diese Maßnahme. Mein Eindruck ist, dass alle in Italien schockiert sind über den drastischen Anstieg der Infektions- und der Todesfälle.
tagesschau.de: Wie ist die Stimmung? Haben die Menschen Angst?
Seisselberg: Angst würde ich es nicht nennen. Aber die Stimmung im Land hat sich geändert. Am Anfang war mein Eindruck, dass die Situation ein wenig auf die leichte Schulter genommen wurde. Die Empfehlungen wurden nicht unbedingt umgesetzt. Jetzt ist die Botschaft, das Ganze ernst zu nehmen, angekommen.
Inzwischen sieht man häufiger in Espressobars, dass die Bedienung Schutzhandschuhe trägt. Die Leute halten mehr Distanz. In den Restaurants sind die Tische, wie vorgeschrieben, einen Meter auseinander gerückt. Alle passen sehr viel mehr auf, selbst hier in Rom, das ja mehrere hundert Kilometer vom Zentrum der Infektionen entfernt ist. Man ist sich bewusst, dass das Virus auch hierher kommen kann und dass man selbst dazu beitragen muss, dass es sich nicht weiter ausbreitet.
"Die harten Einschränkungen spürt man am Abend"
tagesschau.de: Wie kann man sich das öffentliche Leben im Land jetzt vorstellen?
Seisselberg: In Rom sind deutlich weniger Menschen auf den Straßen. Das liegt zum einen daran, dass die Zahl der Touristen drastisch gesunken ist. Aber meinem Eindruck nach sind auch weniger Einheimische draußen anzutreffen. Es gibt sehr viel weniger Verkehr, was auch daran liegt, dass die Menschen ihre Kinder nicht zur Schule bringen und teilweise auch von der Arbeit zu Hause bleiben.
Wobei die Intention der Regierung ist, dass das Wirtschafts- und Arbeitsleben in den jeweiligen Städten weitergeht. Deswegen sind die öffentlichen Verkehrsmittel weiter in Betrieb. Die Botschaft ist: Die Menschen sollen tagsüber zur Arbeit gehen, die harten Einschränkungen gelten ab 18 Uhr, wenn eigentlich das soziale Leben beginnt.
tagesschau.de: Es gibt keine Ausgangssperre, sondern eine Empfehlung, das Haus nur in dringenden Fällen, wie beispielsweise für die Arbeit, zu verlassen. Sind die Menschen nicht verunsichert, was sie nun dürfen und was nicht?
Seisselberg: Ja, es gibt viel Unsicherheit. Vor allem bei den Betreibern der Bars und Restaurants, welche Auflagen jetzt genau für sie gelten, wie das mit den Abständen funktionieren soll, die man einhalten muss.
Die sehr zugespitzte Empfehlung des Ministerpräsidenten, das Haus nicht zu verlassen, wird zumindest tagsüber nicht sklavisch umgesetzt. Man geht durchaus raus, genießt die Sonne, geht spazieren, macht seine Einkäufe. Die große Veränderung ist dann erst am Abend zu spüren, weil die Restaurants, Musikclubs, Kinos und Theater geschlossen sind.
"Angst, dass Versorgung nicht gewährleistet sein könnte"
tagesschau.de: Es gab Meldungen über Hamsterkäufe in der vergangenen Nacht. Haben die Italiener Angst, dass die Versorgung jetzt zusammenbricht?
Seisselberg: Auch in 24-Stunden-Supermärkten in Rom gab es einen deutlich stärkeren Andrang und sehr viel höhere Umsätze als normalerweise. Offensichtlich haben die Menschen tatsächlich eine gewisse Angst, dass über die dreieinhalb Wochen, die Italien nun Schutzzone sein soll, die Belieferung mit Lebensmitteln, der Transport nicht gewährleistet sein könnte.
tagesschau.de: Ministerpräsident Conte hat alle Reisen innerhalb Italiens untersagt, die nicht absolut notwendig sind. Kann das funktionieren?
Seisselberg: Ich denke schon. Es soll Stichproben-Kontrollen der Polizei auf Überlandstraßen und an Bahnhöfen geben. Wer angehalten wird, muss ein Formular ausfüllen. Da kann man beispielsweise ankreuzen, dass man aus beruflichen Gründen unterwegs ist oder weil man gesundheitliche Versorgung braucht. Eine falsche Angabe würde als Urkundenfälschung gewertet und zur Strafverfolgung führen.
Ganz wichtig war, dass Conte auch einen eindringlichen Appell an die Selbstverantwortung der Leute gerichtet hat, sich auch ohne flächendeckende Kontrollen an diese Regeln zu halten. Weil das dem Wohl des Landes diene und wichtig sei, um die beängstigende Entwicklung der Infektionszahlen zu bändigen.
"Epidemie im Süden wäre problematisch"
tagesschau.de: Nachdem Norditalien zur Sperrzone erklärt wurde, gab es eine Massenflucht von Menschen aus Norditalien in den Süden. Kann das Gesundheitssystem des ärmeren Südens das verkraften, wenn damit jetzt auch dort die Infektionen ansteigen?
Seisselberg: Die Tatsache, dass sich am Wochenende viele fluchtartig aus dem Sperrgebiet im Norden abgesetzt haben, war - neben den gestiegenen Infektionszahlen - ein weiterer Grund, das Gebiet auf ganz Italien auszuweiten. Es ist klar geworden, dass man die Leute nicht im Norden halten kann.
In Süditalien hat man das mit Sorge gesehen, dass viele aus den Risikogebieten gekommen sind. Mehrere Präsidenten süditalienischer Regionen haben angekündigt, dass die Leute erstmal zwei Wochen in Quarantäne müssen.
Grundsätzlich ist das Gesundheitssystem in Süditalien in der Tat deutlich schlechter als im Norden. Wenn jetzt dort auch in großem Umfang eine Epidemie ausbrechen würde, würde das sicher zu Problemen führen. Allerdings gibt es auch dort eine Infrastruktur von Krankenhäusern, in der eine gewisse Zahl von Erkrankten sicherlich gut versorgt werden könnte.
"Conte hat viele Fehler gemacht"
tagesschau.de: Wie beurteilen Sie das Krisenmanagement von Ministerpräsident Conte?
Seisselberg: Conte hat viele Fehler gemacht in dieser Krise. Vor gerade mal zwei Wochen hat er in einer Pressekonferenz gesagt, Italien sei ein sehr sicheres Land und hat Touristen eingeladen, nach Italien zu kommen. Seine Linie war, Optimismus zu verbreiten, um die Folgen für Wirtschaft und Tourismus zu begrenzen. Nach dem rasanten Anstieg der Zahlen musste er sich hektisch umorientieren.
Komplett dilettantisch war der Vorgang, Norditalien zur Sperrzone zu erklären. Da gingen schon tagelang Gerüchte durchs Land, was schließlich auch dazu führte, dass hunderte von Menschen sich auf den Weg in den Süden gemacht haben - mit der Gefahr, das Virus in bislang wenig Betroffene Landesteile zu bringen. Jetzt zeigt er eine gewisse Konsequenz, spielt sozusagen seine letzte Karte und versucht damit, seine Fehler zu korrigieren.
Politisch profitiert er aber von der Krise. In seiner Regierungskoalition, in der es ja vorher heftigen Streit gab, steht er besser da als zuvor. Auch die Opposition gibt sich zahm. Man will das Signal senden, in der Krise zusammenzustehen. Das wird von der Bevölkerung goutiert und Contes Beliebtheitswerte steigen.
Das Gespräch führte Sandra Stalinski, tagesschau.de.