Die Fehler der EU-Nachbarschaftspolitik Auf vermintem Gelände
Vor einem Jahr ließ der damalige ukrainische Präsident Janukowitsch das Abkommen mit der EU platzen. Mit dem folgenden Beben rechnete keiner. Die EU ist dafür mitverantwortlich - und erlebt nun die Folgen auf eigenem Terrain, meint Silvia Stöber.
Jahrelang war die EU-Nachbarschaftspolitik mit den Staaten östlich der EU nicht mehr als ein Randthema in Westeuropa. Als die EU dann vor einem Jahr in Vilnius einen Gipfel zum Thema abhielt, rechnete niemand mit dem politischen Beben, das Europa derzeit erschüttert.
Indem die EU den ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch zu einer Entscheidung über das EU-Assoziierungsabkommen zwang, brachen Spannungen auf, deren Tiefe wohl niemand erahnte.
Die Aussicht auf das EU-Abkommen hatte bei vielen Ukrainern Hoffnungen geweckt, dass Korruption, Rechtsunsicherheit und die schamlose Bereicherung der Elite zumindest eingedämmt würden. Mit seinem Nein zum EU-Abkommen brach Janukowitsch bei großen Teilen der ukrainischen Bevölkerung das letzte Vertrauen in die Politik, der Protest begann.
Vorwurf der Einmischung von außen
In Moskau schlugen die Alarmglocken, als westeuropäische und US-amerikanische Politiker Sympathie für die oppositionelle Maidan-Bewegung zeigten. Die russische Führung sah sich in ihrem Misstrauen gegenüber ausländischem demokratischen Engagement bestätigt: Es wurde als indirekter Angriff auf Russland verstanden, da der von Moskau gestützte Janukowitsch durch die Demonstrationen in Bedrängnis geriet.
Dass ein Volk in einer Ex-Sowjetrepublik aus eigener Kraft einen politischen Wandel bewirken kann, das halten Politiker wie Präsident Wladimir Putin nicht für möglich. So etwas kann aus ihrer Sicht nur durch Einmischung anderer Staaten gelingen und ist deshalb umso mehr zu fürchten.
Als in der neuen ukrainischen Regierung auch Politiker Posten erhielten, die die Präsenz der russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim kritisierten, sah Putin die Zeit gekommen, die Halbinsel zu annektieren und sich so einen Platz in der Geschichte zu sichern.
Unterwegs in einer sensiblen Zone
Der EU ist weniger der Vorwurf zu machen, Russland nicht ausreichend in das Projekt der Nachbarschaftspolitik mit den sechs Ländern östlich der EU eingebunden zu haben. Angebote zur Teilnahme gab es. Vielmehr trieb die EU das Projekt mit ihrer Brüsseler Binnensicht und zu wenig Sensibilität für die Verhältnisse im post-sowjetischen Raum voran. Mit intransparentem Vorgehen lieferte sie den Gegnern Argumente.
So musste die EU die erste Niederlage bereits einstecken, bevor der ukrainische Präsident Janukowitsch Nein gesagt hatte. Schon im September 2013 hatte die Südkaukasusrepublik Armenien die Unterschrift unter ihr Abkommen mit der EU abgesagt. Das mehrere 100 Seiten starke Vertragswerk ließ sich der Bevölkerung kaum vermitteln, zumal dessen Inhalt bis heute nicht veröffentlicht wurde. Die russische Führung brauchte nur einen kleinen Hinweis auf ihre Rolle als Schutzmacht Armeniens zu geben, damit die Regierung in Jerewan der EU absagte.
Der Inhalt des Abkommens für die Ukraine wurde zwar veröffentlicht, aber erst einige Wochen, nachdem die Zeitungen "Kyiv Post" und "Kyiv Weekly" den Text ohne Anhänge im Januar 2013 geleakt hatten. So konnten EU-Gegner Misstrauen über die Absichten der Union säen, zum Beispiel mit dem Verweis auf jene Paragrafen, in denen es um die Zusammenarbeit im militärischen Bereich, bei Abrüstung und Terrorbekämpfung geht. Was eine legitime Kooperation der EU mit einem souveränen Staat ist, stellten sie als unbotmäßiges Vordringen der EU auf russisches Interessengebiet dar.
Demokratie diskreditiert
In der EU wurde unterschätzt, wie stark geopolitisches Denken in der russischen Führung verankert ist. Die Reden Putins bei Anlässen wie der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 wurden nicht ernst genug genommen.
Auch nahmen EU-Politiker nicht wahr, wie sehr sie mit ihrer Politik das Modell der Demokratie-Förderung östlich der EU in Misskredit brachten. Es lag zum Beispiel daran, dass Politikerinnen wie Julia Timoschenko im Westen als Demokratinnen bezeichnet und unterstützt wurden, während sie in der Ukraine als Mitglied der überaus korrupten Elite gesehen wurden. Ein anderes Beispiel ist Aserbaidschan, dessen autoritäre Führung hohe EU-Vertreter mit Besuchen beehrten und mit um Energie-Abkommen verhandelten - dies zur großen Enttäuschung pro-demokratisch orientierter Politiker und Aktivisten.
Dass es der EU und den USA nur um Wirtschaftsinteressen und nicht um Demokratie gehen könnte, schien eine Meldung im Mai zu bestätigen, wonach der Sohn von US-Vizepräsident John Biden in eine Energie-Firma in der Ukraine eingestiegen war. Der Vizepräsident war in den Monaten zuvor mehrfach zu Besuch in Kiew.
EU kein Vorbild mehr
In Russland sehen viele Menschen, anders als nach der Wende 1989, keine Alternative mehr im Modell der Demokratie. Der Westen selbst lieferte in der Finanzkrise und mit den Kriegen von Kosovo bis Irak Argumente für die staatlich gelenkte Berichterstattung in Russland. Diese wandelte sich inzwischen in einen Propaganda-Mix aus Wahrheiten, Halbinformationen und glatten Lügen, die sich mit hoher Intensität über das Volk ergießt.
Dass Putin mit seiner imperialistischen Politik gegenüber den Ex-Sowjetrepubliken so viel Unterstützung in der Bevölkerung erhält, liegt auch daran, dass in Russland im Grunde nie akzeptiert wurde, dass die Ex-Sowjetrepubliken vollständig souverän und unabhängig sind. Wie tiefgreifend nationalistische Sichtweisen in der Bevölkerung Russlands verankert sind, ist ein weiterer Aspekt, der in Westeuropa unterschätzt wurde.
Propaganda als Herausforderung
Die russische Sichtweise trifft in Westeuropa auf Verständnis und Unterstützung, auch weil hier das Modell des Demokratieexports in die Welt nicht mehr unumstritten ist. Erinnert sei nur an Aussagen von Altbundeskanzler Helmut Schmidt oder des Außenpolitik-Experten Eberhard Sandschneider im vergangenen Jahr. Sie bezweifelten, dass man von Staaten wie China und Russland eine demokratische Entwicklung und die Einhaltung der Menschenrechte, die ja Produkt westlicher Kultur seien, verlangen kann.
Westeuropa selbst steht vor der Herausforderung, umzugehen mit der russischen Propaganda, von der Leine gelassen in der Ukraine-Krise und weitergetragen von populistischen, nationalistischen und EU-kritischen Politikern. Wichtig ist, auch die nicht weniger zimperlichen ukrainischen Beeinflussungsversuche wahrzunehmen und zu benennen.
Die Propaganda bedient sich demokratischer Instrumente wie der Medien-, Meinungs- und Organisationsfreiheit. Es muss sich erweisen, wie wehrhaft die Demokratie in Europa ist, oder ob der Westen so dekadent und schwach ist, wie russische Politiker behaupten.
Dass die EU innerhalb eines Jahres so auf sich zurückgeworfen würde, damit rechnete beim EU-Nachbarschaftsgipfel in Vilnius vor einem Jahr noch niemand.
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