Reform der Eurozone Ringen um Gemeinsamkeit
Bis zum EU-Gipfel Ende Juni wollen Deutschland und Frankreich eine EU-Reformagenda auf den Weg bringen. Auf hohe Erwartungen aus Paris reagiert Berlin zaghaft. Und produziert damit nur noch mehr Druck.
Die Stimmung wirkt angespannt in dem kleinen Konferenzraum des Berliner Hotels Adlon. Bruno Le Maire blickt seinen Gesprächspartnern fest in die Augen. Jede Geste soll die Entschlossenheit des französischen Finanzministers verbreiten: "Jetzt oder nie" ist der Titel der Rede, die Mitarbeiter an Journalisten verteilen. Le Maire wird sie in wenigen Augenblicken halten, auf Deutsch, in einer Art selbst gewählten Höhle des Löwen: der Jahrestagung der Stiftung Familienunternehmer, einer einflussreichen Lobby des deutschen Mittelstands.
Gemäßigte Begeisterung für Europa
Dass ihre Begeisterung für Europa nur in verhältnismäßig engen Bahnen verläuft, haben einzelne Unternehmer an diesem Vormittag bereits klar gemacht. Natürlich sei Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ein Glücksfall für die stagnierende Europa-Idee. "Doch die Alarmglocken müssen läuten, wenn Macron über einen neuen Haushalt für die Länder der Eurozone spricht", warnt Stiftungschef Brun-Hagen Hennerkes.
Schnell stehen "Fleiß und Erfolg" der deutschen Familienunternehmen gegen faule "Südländer", die nichts lieber täten als in einer sogenannten "Transferunion" in den Genuss deutscher Steuergelder zu kommen. Dass in diesem Umfeld ausgerechnet französisches Mineralwasser auf den Tischen steht, wirkt schon fast putzig. Vielleicht soll es an Frankreichs Geschick erinnern, zwischen Norden und Süden der EU auszugleichen.
Der deutsche Finanzminister Olaf Scholz hat bei seiner Rede am Morgen das Thema EU-Geld vorsichtshalber gleich links liegen lassen: "Über Finanzen werden wir schon so verhandeln, dass alles im Rahmen bleibt", sagt er knapp. Der Hamburger Tonfall stellt das skeptische Auditorium offenbar zufrieden. Scholz Aura des ehrbaren Kaufmanns wirkt in der Keimzelle der deutschen Wirtschaftskraft wie eine Beruhigungspille.
Eine Eurozone, die funktionieren will, braucht Ausgleich
Nun also Le Maire. In geschliffenem Deutsch klingen seine Sätze mitunter beschwörend. Seine Rede hat Struktur und Plan. Er will überzeugen, er hat sie selbst geschrieben und mehrere Tage daran gearbeitet.
Für Le Maire hat mehr europäische Integration gleich einen doppelten Zweck: Sie könne offensichtliche Unzulänglichkeiten in der Konstruktion der Eurozone beseitigen und gleichzeitig die Rolle Europas im von Amerika umgekrempelten Welthandel stärken. "Sind wir heute in der Lage, der amerikanischen Sanktionspolitik entgegenzuwirken?", fragt Le Maire. "Nein!", liefert er selbst die Antwort.
Deshalb: "Jetzt oder nie." Die Eurokrise hat für den Franzosen vor allem eines gezeigt: Das wirtschaftliche Gefälle in der Eurozone schwäche den Euro. Eine Eurozone, die funktionieren wolle, müsse dieses ausgleichen. Unterschiede in der Arbeitsproduktivität, große Ungleichheiten beim gegenseitigen Handel, bei der Arbeitslosigkeit, bei der Staatsverschuldung: Die Eurozone müsse diese Unterschiede verringern, wirbt Le Maire. Er schlägt eine Mischung aus Disziplin und Solidarität vor. "Es ist an den Regierungen, gegen Schwächen im eigenen Land vorzugehen, aber mit der Unterstützung derer, die in der Eurozone am erfolgreichsten sind."
Das wirtschaftliche Gefälle in der Eurozone schwächt den Euro, meint der französische Finanzminister Le Maire.
Hanseatische Einsilbigkeit statt präziser Details
Im Saal könnte man nach diesen Sätzen eine Stecknadel fallen hören. Da nimmt Le Maire das böse Wort der Transferunion lieber gleich selbst in den Mund. "Solidarität bedeutet nicht Laxheit", nimmt er auf, was viele hier wohl denken. "Frankreich wird sich nie für eine Vergemeinschaftung von Schulden aus der Vergangenheit stark machen." Für diesen Satz erntet der Franzose ersten zögerlichen Applaus.
Was Le Maire dagegen will, haben Kanzlerin und Vizekanzler in den vergangenen Tagen bereits in die deutsche Debatte tröpfeln lassen. Von einem "Investivhaushalt" sprach zu Wochenbeginn Angela Merkel. Sie meint damit zusätzliche Haushaltsmittel der Staaten der Eurozone, die in gemeinsame Zukunftsprojekte fließen sollen, etwa in den Infrastrukturausbau, in Forschungsprojekte oder eine zukunftsorientierte Wirtschaftsförderung.
Allzu präzisen Nachfragen dazu weicht die Bundesregierung bislang aus. Scholz kommt auch hier die hanseatische Einsilbigkeit zur Hilfe. "Wir sind auf der Suche nach einer verhandelten Richtigkeit", ist der schönste Satz, den er dabei auf dem WDR-Europaforum produziert. Ob und wie dieses Geld möglicherweise in die bisherige EU-Finanzierung eingebettet werde, sei Gegenstand der Verhandlungen.
"Wir brauchen Deutschland! Wir brauchen Sie!"
Die französische Regierung bringen diese ersten deutschen Antworten merklich noch nicht ins Schwärmen. Le Maire bekundet Verständnis für deutsche Ängste, doch auch für die sei Europa die beste Lösung: "Wie viele Brexits brauchen wir noch? Welches Wahlergebnis müssen die AfD in Deutschland und der Front National in Frankreich noch erreichen? Wie viele europäische Regierungen müssen noch in den Populismus abgleiten, bevor wir reagieren?" In der Tat treibt auch die Familienunternehmer die Sorge um, was etwa der Kurs der neuen Regierung in Italien an neuen Belastungen bringen könnte.
Für seine Worte, "Wir brauchen Deutschland! Wir brauchen Sie!", erhält Le Maire am Ende sogar fast donnernden Applaus. So engagierte Reden über Europa sei man von deutschen Politikern gar nicht gewohnt, heißt es von den Familienunternehmern. Vielleicht bedeutet das etwas Rückenwind für die nächsten Tage.
Olaf Scholz und Bruno Le Maire wollen sich auf eine gemeinsame Position über die Reform der Eurozone verständigen (Foto: Archiv)
Am Wochenende treffen sich Le Maire und Scholz zum dritten Mal, um eine gemeinsame Finanzstrategie für Europa zu entwerfen. In einer schicken Stadtvilla im Pariser Regierungsviertel sollen hanseatische Nüchternheit und französischer Enthusiasmus endgültig zueinander finden.