Nachrichtendienste in Brüssel "Die Spione sind da"
Spionageabwehr war für die EU lange kein großes Thema, dabei flogen in Brüssel immer wieder Abhörskandale auf. Auch heute sind dort Agenten aus der ganzen Welt aktiv, betont Belgiens Staatsschutz: "Es gibt sie nicht nur im Film".
Für Russlands Geheimdienste stehe Belgien auf der Rangliste der interessanten Ziele an zweiter Stelle - gleich hinter den USA, sagt der in Paris lebende ehemalige KGB-Offizier Sergueï Jirnov. Interessant für russische Spione sei nicht das Land an sich, sondern die Einrichtungen in seiner Hauptstadt: "Das NATO-Hauptquartier und die EU-Kommission. Das sind die zwei Hauptziele in Brüssel und darauf sind alle Mittel der Russen ausgerichtet." 127 diplomatische Vertretungen gibt es in Brüssel laut Global Diplomacy Index des Lowy Instituts, mehr als irgendwo anders, dazu die EU-Institutionen, das NATO-Hauptquartier und Niederlassungen großer Konzerne - alles potentielle Zielobjekte ausländischer Geheimdienste.
Pascal Petry vom belgischen Staatsschutz schlägt im Sender RTBF Alarm: "In Brüssel gibt es wohl mehrere hundert Spione. Eine offensichtlich starke Präsenz Chinas und Russlands und deren Kollegen aus dem Rest der Welt, manche sind diskreter als andere." Die "Welt" berichtete 2019 von rund 250 chinesischen und 200 russischen Agenten in Brüssel und beruft sich dabei auf den Europäischen Auswärtigen Dienst. Gerhard Conrad war dort Direktor des Zentrums für nachrichtendienstliche Analysen (IntCen), davor Mitarbeiter beim deutschen Auslandsnachrichtendienst BND. Er hält die Schätzung für plausibel: "Erstens unter dem Aspekt Wirtschaftsspionage, zweitens natürlich unter dem Aspekt Sanktionsspionage: Also welche Sanktionen, welche Gegenmaßnahmen werden geplant, was kann man dagegen unternehmen?" Auch Staaten wie Nordkorea oder der Iran hätten an solchen geheimen Informationen Interesse.
Verwanzung seit 2003 bekannt
Auch die Geheimdienste afrikanischer Staaten sind an Erkenntnissen aus Brüssel interessiert und haben dabei die großen Exilgemeinden in Belgien im Blick. Die Methoden der Dienste setzen sich zusammen aus moderner Cyberüberwachung und klassischer Anwerbung, erklärt Conrad: Es könne sich um Quellen aus den EU-Institutionen handeln, aber auch um Vertreter anderer Staaten oder Mitarbeiter von Industrieverbänden. "Und dann hängt es sehr stark von den Kapazitäten ab, die Staaten haben." Dabei müsse es nicht immer Cyberspionage sein: "Es kann passieren, dass jemand Räume verwanzt, wenn eine Vertretung gebaut wird und man sich über Bauarbeiter oder wie auch immer einschleicht und dann gleich während der Baumaßnahmen entsprechend Abhöreinrichtungen anbringt. Wenn Sie das im Ratsgebäude oder in der Kommission bei entsprechenden Räumen schaffen, dann haben sie natürlich einen guten Standortvorteil."
So kam 2003 zufällig heraus, dass die Wände im EU-Ratsgebäude Ohren haben - dort, wo sich die Delegationsräume der Mitgliedsstaaten befinden. Die Wanzen wurden schon beim Bau in den 1990er-Jahren eingesetzt - von wem, ist offen. Im März dieses Jahres wies Belgien 21 russische Diplomaten wegen Spionageverdachts im Zusammenhang mit dem russischen Überfall auf die Ukraine aus. Im Oktober 2021 entzog die NATO acht Mitgliedern der russischen Vertretung die Akkreditierung. Im September 2020 wurde ein britischer Geschäftsmann verdächtigt, sensible Informationen an chinesische Agenten verkauft zu haben. Europas Bankenaufsicht (März 2021), die Arzneimittelbehörde (Dezember 2020) und die EU-Delegation in Moskau (Februar 2017) waren Ziel von Cyberangriffen.
"Arbeit besser nicht im Zug erledigen"
2013 berichtete der "Spiegel" über Dokumente des Whistleblowers Edward Snowden, wonach der US-Geheimdienst NSA die EU-Vertretungen in Washington und New York verwanzte. Auch der Freund hört also mit: "Es ist ja Freundschaft im Verhalten, dass man sich also gegenseitig nicht aktiv schädigt. Gleichwohl wollen auch Freunde immer ganz gerne wissen, was der andere denn so denkt und tut und das Entscheidende ist dann, wie man mit diesem Wissensvorsprung hinterher umgeht", sagt Conrad dazu. "Da entscheidet sich dann Freundschaft oder Feindschaft."
Nicht nur hochrangige Diplomaten stehen im Fadenkreuz der Geheimdienste, sagt Pascal Petry vom belgischen Staatsschutz, der für die Spionageabwehr außerhalb der Einrichtungen EU und NATO zuständig ist. "Wenn Sie sensible Themen bearbeiten - nicht nur in der NATO oder in der EU, sondern wenn Sie in einer Bank oder für ein Ministerium tätig sind, als Beamter, Diplomat, Forscher - dann ist es vielleicht besser, Arbeitsunterlagen nicht im Zug zu lesen, ein wichtiges Telefonat nicht auf dem Bahnsteig oder auf der Grande Place in Brüssel zu führen", empfiehlt er. "Man sollte Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, denn es gibt sie nicht nur im Film - die Spione sind da."
NATO gegenüber der EU klar im Vorteil
Deshalb plant der Rat, also die Vertretung der 27 EU-Mitgliedsstaaten, laut Medienberichten den Bau eines abhörsicheren Raumes für bis zu 100 Personen, um sensible Gespräche zwischen Diplomaten und Ministern besser zu schützen. Das EU-Parlament betont, dass es schon Mitte März als erste EU-Institution Diplomaten aus Russland und Belarus den Zugang verweigerte, seit Juni auch deren Handelsvertretern.
Der Zugang zu Verschlusssachen im Parlament sei klar geregelt, Sitzungs- und Lesesäle seien sicher. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen scheint dem nicht zu trauen: Nach Angaben aus dem Parlament sagte sie im Februar einen Auftritt im Plenum in Straßburg ab, weil sie eine sensible Videoschalte lieber aus dem Kommissionsgebäude in Brüssel machen wollte.
Bei der Spionageabwehr sei die NATO gegenüber der EU klar im Vorteil, sagt Sicherheitsexperte Conrad: "Institutionell ist die NATO da - aus der Zeit des Kalten Krieges stammend - besser aufgestellt, die EU-Institutionen sind nicht sonderlich gut aufgestellt." Das werde auch in den Ratschlussfolgerungen seit 2018 jährlich bemängelt.
Auch Ex-KGB-Offizier Jirnov sieht nicht alle Brüsseler Institutionen ausreichend gewappnet gegen Lausch- und Spähangriffe ausländischer Geheimdienste - "die NATO schon, die EU nicht. Das ist eine Frage der Prioritäten und des Budgets", sagt er. "Lange hat man sich mehr um Terrorismus und Organisierte Kriminalität als um Spionage gekümmert."
Viele glaubten, sie lebten in einer Welt ohne Blöcke nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. "Man sagte, der Kalte Krieg sei vorbei, Russland ist ein normaler Staat geworden, fast ein Verbündeter, jedenfalls keine Gefahr mehr. Das war ein sehr schwerer Fehler, weil Russland mit dem Ausspionieren des Westens nie aufgehört hat."