EU-Migrationspolitik Ein Muster ohne Wert?
Die EU-Innenminister ringen heute erneut um die Einigung auf einen EU-Pakt für Asyl und Migration. Als Lösung werden die Migrationsabkommen, etwa mit Tunesien, gepriesen. Macht Europa sich da was vor?
"Dieses Abkommen ist sehr wichtig. Es ist sehr wichtig für Tunesien. Und es ist sehr wichtig für die Europäische Union": EU-Kommissionsprecher Eric Mamer sah sich gerade wieder genötigt, die Bedeutung des Migrationsabkommens mit dem nordafrikanischen Land zu beschwören. Jüngster Anlass waren Spannungen mit Tunesien, gerade hat es 60 Millionen Euro der EU, die als Budgethilfe nach Tunis geflossen waren, zurücküberwiesen.
Zuvor hatte der Präsident Kais Saied wiederholt eine geplante Visite von EU-Politikern platzen lassen und schließlich in Richtung Brüssel wissen lassen, sein Land nehme "nichts an, was Gnaden oder Almosen ähnelt".
Ein Missverständnis? Wohl kaum, sagt Helena Hahn, Migrationsforscherin am European Policy Center (EPC). Die Interessen gingen einfach sehr weit auseinander. Tunesien sei vor allem an der wirtschaftlichen Entwicklung interessiert. Deswegen laute auch die Botschaft: "Wir wollen nicht wie Libyen oder wie die Türkei die Grenzwärter für die EU spielen", so Hahn - auch wenn die Abkommen mit diesen Ländern unter etwas anderen Umständen geschlossen wurden.
"Haben wir überhaupt ein Abkommen?"
Genau das aber will Europa: Im Juli reiste eine Delegation um EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen nach Tunis, um feierlich ein "memorandum of understanding" zu unterzeichnen. Es stellt Tunesien Finanzhilfen von bis zu 900 Millionen Euro in Aussicht, wenn das Land illegale Überfahrten über das Mittelmeer stoppt.
Im September flossen 67 Millionen Euro, explizit für neue Schiffe für die tunesische Küstenwache, für Wärmekameras zum Aufspüren der Boote und alles, was noch nötig ist, um härter gegen Schlepper vorzugehen und Flüchtlinge zurückzubringen. Aber, so Hahn: "Unter dem Deckmantel der Wirtschaftshilfe große migrationspolitische Ziele zu verfolgen, das scheint nicht zu funktionieren." Wenn eine Seite bei diesem informellen Abkommen häufig nicht mitgehe, müsse man fragen, ob es überhaupt ein Abkommen gebe.
Unzuverlässiger, als erwartet
Drei Monate nach Unterzeichnung des Migrations-Deals muss Europa feststellen: Eine zunehmend autokratische Regierung in Tunis erweist sich als noch unzuverlässiger als erwartet. Der gewünschte Effekt bleibt bisher aus: Allein in der Woche nach Unterzeichnung der Vereinbarung gelang rund 7.400 Menschen die Überfahrt von Tunesien nach Italien - mehr als je zuvor binnen einer Woche.
Und die Zahlen steigen weiter. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex spricht von mehr als 130.000 illegalen Überfahrten über das Mittelmeer allein in diesem Jahr. Rund zwei Drittel starteten in Tunesien Richtung Italien.
Dran bleiben lohnt sich?
Die EU steckt nun in einem Dilemma. Die Probleme mit Tunesien gefährden den Erfolg des geplanten EU-Pakts für Asyl- und Migration. Dessen Ziele sind, die EU-Außengrenzen zu sichern, illegale Einwanderung zu begrenzen und deutlich schnelle Rückführungen raus aus der EU zu ermöglichen.
"Wir als Europäer müssen definieren, wer in die Europäische Union kommt und unter welchen Umständen. All dies basiert auf einer umfassenden Partnerschaft mit Herkunfts- und Transitländern." So formulierte es die EU-Kommissionschefin von der Leyen gerade wieder, angesichts der Terror-Attacke in Brüssel. Der Täter war ein mehrfach auffällig gewordener Tunesier, dessen Asylanträge längst abgelehnt waren, der also seit Jahren illegal im Land war.
Abkommen wegen Uneinigkeit
EPC-Forscherin Hahn sagt, die Migrationsabkommen seien jetzt ein Grundpfeiler der EU-Migrationspolitik: "Das liegt natürlich auch daran, dass die Mitgliedstaaten sich intern nicht einig sind. Sie können sich nicht verständigen auf Regeln zur Verantwortungsteilung und auf Solidarität bei der Verteilung und Aufnahme von Flüchtlingen."
Kann der Deal also noch zum Guten gewendet werden? Es müsse dringend nachverhandelt werden, empfiehlt Migrationsforscher Gerald Knaus, der als Erfinder des EU-Türkei-Deals gilt, im ARD-Interview: "Wir, also die Europäische Union, haben auch mit der Türkei sechs Monate verhandelt - zunächst ohne jeden Erfolg. Da wurden auch nur Versprechungen gemacht und es gab keinen festen Plan und konkrete Ziele, was man von der Türkei wartet und was man ihr verspricht. Dann wurde gemeinsam ein sehr präzises Papier vorgelegt. Das hat die Situation gewendet und die Zahl der ankommenden Migranten ist deutlich gesunken."
Einiges zu klären
Bevor die EU nun also weitere Abkommen, allen voran etwa mit Ägypten, anstrebt, müsse sie einiges klären, empfiehlt die Migrationsforscherin Hahn: Wie könne es gelingen, eine gute Balance zwischen der Erweiterung von legalen Einreisemöglichkeiten sowie effektiverem Grenzmanagement und Rückkehrpolitik zu schaffen? Dazu müsse sie Transparenz schaffen: "Ich denke, dass mit den Erfahrungen des Tunesien-Deals die Einflussnahme auf den Inhalt weiterer Abkommen - sowohl für die EU-Staaten als auch für das Parlament - viel größer sein muss und wird."
Und es stellt sich wohl auch die grundsätzliche Frage: Inwieweit ist die EU bereit, ihre Migrationspolitik so unverlässlichen Partnern abhängig zu machen? Und kann sie damit mangelnde Solidarität und Einigkeit langfristig ausgleichen?