Ein Demonstrant läuft während der nächtlichen Proteste durch Nanterre
analyse

Entwicklung in den Banlieues Kärcher-Strategie trifft auf Verlierer-Gefühle

Stand: 05.07.2023 20:35 Uhr

Die jüngste Welle der Gewalt richtet Frankreichs Fokus erneut auf die Vorstädte. Warum hatten frühere Aktionspläne hier wenig Erfolg? Welche Lösungsansätze prallen in der Debatte nun aufeinander - und welche bieten Perspektiven?

Es war ausgerechnet ein Ausbildungszentrum für Jugendliche im armen Norden der Stadt Paris, das sich Emmanuel Macron 2016 ausgesucht hatte, um seine Kandidatur als Präsident bekannt zu geben. Er wollte Aufbruchstimmung erzeugen und signalisieren: Die Jugend in unseren Vorstädten hat Potenzial und sie hat unser Vertrauen verdient!

Nur wenige Wochen nach seinem Einzug in den Elyséepalast 2017 aber kürzte der frisch gewählte Präsident die Zuwendungen für die Städte; weniger Geld für subventionierte Jobs, weniger Hilfen für Wohnungspolitik. Das war ein erster Nackenschlag für die Bürgermeister und Bürgermeisterinnen. Einige Monate später folgte der zweite: Macron ließ den "Bericht Borloo" sang- und klanglos in der Schublade verschwinden.

Er selbst hatte den ehemaligen Minister für Stadtentwicklung, den Zentristen Jean-Louis Borloo, gebeten, einen langfristig angelegten Aktionsplan für die armen Vorstädte auszuarbeiten. Borloo hatte sich mit dem Ziel an die Arbeit gemacht, alle Akteure einzubinden und einen Plan zu schaffen, der auf allen Ebenen ansetzt: Sicherheit, Drogenbekämpfung, Erziehung, Weiterbildung, Kultur, Sport, Gebäudesanierung, Digitalisierung. Und: Borloo hatte die Lokalpolitiker miteinbezogen. Damals sprachen manche von ihnen sogar von "Euphorie", die der Plan in den Rathäusern ausgelöst habe. Umso bitterer war dann die Enttäuschung.  

Ein angespanntes Verhältnis

Seither ist das Verhältnis der Bürgermeister und Bürgermeisterinnen zu ihrem Präsidenten angespannt. Zwar hat Macron in seiner zweiten Amtszeit die Gelder für bauliche Renovierungsarbeiten in den Vorstädten fast verdoppelt und investiert noch einmal zwölf Milliarden Euro. Er hat die Schülerzahl in Grundschulklassen in besonders schwierigen Vierteln halbieren lassen, damit die benachteiligten Kinder besser lernen können.

Doch bei dem jährlichen Kongress der Bürgermeister wird Macron jedes Mal eher kühl empfangen. Sie fühlen sich missachtet und bevormundet. Das wurde auch bei der eilig einberufenen Zusammenkunft im Elyséepalast am Dienstag deutlich.

Ali Rabeh etwa, der marokkanisch-stämmige Bürgermeister von Trappes im Südwesten von Paris, zeigte sich enttäuscht: "Wenn man solche kurzfristig angesetzten Therapiesitzungen hier macht, gibt man doch den Randalierern das Gefühl, dass man nur mit Krawall und dem Legen von Feuer Aufmerksamkeit für die Banlieues erreicht. Das ist gefährlich! Man muss das ganze Jahr über im Gespräch bleiben und über Stadtentwicklung sprechen. Sonst kann man die Lage nicht wirksam ändern."

Auch der Politologe Martial Foucault vom Institut CEVIPOF an der Universität SciencesPo kritisiert: "Man beruft die Bürgermeister nur ein, wenn es eine Krise gibt. Man arbeitet nicht vorausschauend mit ihnen zusammen." Und Patrick Chaimovitch, grüner Bürgermeister von Colombes im Westen von Paris, wo zuletzt drei Tage Ausgangssperre herrschte, erklärt im Gespräch mit dem ARD-Studio Paris: "Unser Budget wird seit Jahren schrittweise ausgehöhlt; auch das der Vereine und lokalen Verbände. Uns steht das Wasser bis zu Hals. Diese Tendenz fing schon vor Macron an, aber sie hat sich in den letzten Jahren eindeutig verschärft."

Eine fatale Strategie

Der Wendepunkt sei mit Beginn der 2000er-Jahre gekommen, sagen Bürgermeister und Soziologen; zu jener Zeit, als der konservative Nicolas Sarkozy Innenminister war. Er machte sich als Law-and-Order-Politiker einen Namen und erhielt von Rechts viel Applaus, als er nach den Unruhen 2005 erklärte, er werde die Vorstädte mit dem "Kärcher vom kriminellen Gesindel befreien".

Das Thema Polizei und Sicherheit rückte in den Mittelpunkt - mit fatalen Folgen, erklärt der Bürgermeister von Grigny von der kommunistischen Partei im Interview mit dem Radiosender France Culture: "Die Kärcher-Strategie muss aufhören. Sie steht im Zentrum der Polizeidoktrin, die auf Repression setzt. Ich erinnere daran: Ohne die tödlichen Zwischenfälle zwischen der Polizei und den jungen Männern der Vorstädte wie etwa 2005 in Clichy-Sous-Bois oder jetzt mit Nahel in Nanterre gäbe es ja keine Aufstände."

Es geht um Erziehung, Bildung und Infrastruktur

Die kriminellen Jugendlichen, denen es zum Teil katastrophal schlecht geht, müssten besser aufgefangen werden, so Philippe Rio. "In meiner Stadt Grigny verlassen 50 Prozent der Jugendlichen die Schule ohne Abschluss. Wir brauchen einen starken öffentlichen Dienst. Die Kinder müssen ins Zentrum der Strategie, nicht der Kärcher." Es helfe auch nichts, nur in Beton zu investieren, in die Renovierung von Gebäuden.

Es gehe um Erziehung, Bildung und auch psychologische Hilfe - und um Infrastruktur: Wer wie beispielsweise in La Castellane, einer Hochhaussiedlung von Marseille, eine Stunde Bus fahren muss, um Geld abzuheben, weil es schlicht keine Bankfiliale mehr gibt. Wer keine Post, keinen Optiker und keinen Kinderarzt mehr vor Ort hat, fühlt sich nicht nur abgehängt, sondern ist abgehängt. 

Die Suche nach einem Ausweg

Wie kann man den Vierteln aus der Misere helfen, in denen oftmals weit mehr als die Hälfte der Einwohner aus Familien mit Migrationsgeschichte stammen und eine Arbeitslosenquote von 19 Prozent herrscht - doppelt so hoch wie im landesweiten Durchschnitt?

Die Bürgermeister geben je nach Parteizugehörigkeit unterschiedliche Antworten: Der Chef der konservativen Republikaner etwa, Eric Ciotti, erhält von vielen seiner Parteikollegen in den Rathäusern Zustimmung, wenn er fordert, die Eltern der kriminellen Jugendlichen zu bestrafen und ihnen die staatlichen Zuwendungen zu streichen.

Der republikanische Bürgermeister von l’Hay-les Roses, dessen Familie bei den jüngsten Unruhen attackiert und verletzt wurde, wünscht sich nicht nur mehr Geld für Vereinsarbeit, sondern auch die Möglichkeit, Drohnen zur Kriminalitätsbekämpfung einsetzen zu können. Seit 1977 hat es in Frankreich mehr als zehn Aktionspläne für die sozial schwachen Viertel gegeben. Die Summen, die dafür ausgegeben wurden, sind mittlerweile Gegenstand politischer Polemik.

Ausgaben für Vorstädte sind Teil des Diskurses

Unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen werden gegeneinander in Stellung gebracht. Gerade die Rechte und extreme Rechte verweisen immer wieder darauf, dass man für die von Einwanderung geprägten Vorstädte "alles" und für die ländlichen Gebiete Frankreichs "nichts" tue. Falsch, erklärt Jean-Louis Borloo in einem Interview für die Zeitschrift "Le 1 Hebdo" aus dem Jahr 2021: "Ich verurteile diese unglaubliche Manipulation der Zahlen. Auf die Einwohnerzahl umgerechnet haben diese Viertel vier Mal weniger Mittel als andere."

Der Soziologe Renault Eppstein spricht von einem vergifteten Diskurs. Er hat 2020 eine Studie über 40 Jahre Stadtentwicklung veröffentlicht. "Natürlich gibt es extra Gelder für die besonders benachteiligten Viertel. Aber wenn man sich anschaut, wieviel Geld aus den normalen öffentlichen Töpfen ausgegeben wird, dann steht eine Schule in einem bourgeoisen Viertel deutlich besser da als die Schulen in armen Vierteln."

Drama oder Chance?

Frankreich ringt also um die richtigen Antworten auf die Unruhen. Politologe Martial Foucault ist überzeugt, dass man das Problem der Vorstädte wieder viel grundsätzlicher anpacken müsse. Er kritisiert: "Emmanuel Macron macht etwas sehr Widersprüchliches. Er sagt, er sei für die Dezentralisierung, also für mehr Autonomie der Rathäuser, er wolle den Bürgermeistern mehr Kompetenzen zugestehen. Gleichzeitig aber sagt er nein zu mehr Geld und nein zu finanzieller Autonomie."

Präsident Macron befürwortet einerseits schnelle und harte Maßnahmen der Justiz. Gleichzeitig hat er sich selbst und seiner Regierung eine Zeit des Nachdenkens und des Verstehens verordnet. Noch ist völlig offen, wie eine neue und nachhaltige Strategie zur Entwicklung der Banlieue in Frankreich aussehen wird.

Jean-Louis Borloo sagt: "Welches Land kann es sich leisten, 150.000 Jugendliche am Fuße der Hochhäuser rumhängen zu lassen? Das ist absurd! Diese Viertel sind entweder unser Drama oder unsere Chance. Man muss sich nur entscheiden, was man will."

Julia Borutta, ARD Paris, tagesschau, 06.07.2023 07:55 Uhr