Anwälte und der Gerichtspräsident am Eröffnungstag des Missbrauchsprozesses gegen einen pensionierten französischen Chirurgen.

Prozessbeginn in Frankreich Arzt soll fast 300 Kinder missbraucht haben

Stand: 24.02.2025 17:38 Uhr

In Frankreich hat der wohl größte Prozess um Kindesmissbrauch in der Geschichte des Landes begonnen. Ein Chirurg soll über Jahrzehnte meist bewusstlose Patienten sexuell missbraucht und darüber detailliert Buch geführt haben.

Fast 300 Opfer listet die Anklage auf, ihr Durchschnittsalter betrug 11 Jahre. Die erschütternde Tragweite des Missbrauchsprozesses gegen einen Chirurgen in Frankreich wurde gleich zum Auftakt im Gerichtssaal spürbar, als ein junger Mann an das Mikrofon trat. "Ich erinnere mich in Teilen an die Taten im Aufwachsaal und wie ich in Panik nach meinem Vater rief", sagte der Mann mit klarer Stimme. Zu dem Missbrauch an ihm kam es der Anklage zufolge 1995: Als kleines Kind war er damals Patient des Arztes.

Über Jahrzehnte hinweg soll der Chirurg in Westfrankreich junge Patienten - oft während der Narkose - missbraucht und darüber akribisch Tagebuch geführt haben. Wegen Vergewaltigung und sexuellen Missbrauchs von 299 meist minderjährigen und bewusstlosen Patienten steht der heute 74-Jährige nun im westfranzösischen Vannes vor Gericht.

Zwischen 1989 und 2014 soll er insgesamt 158 Patienten und 141 Patientinnen missbraucht haben. 15 weitere Fälle sah die Staatsanwaltschaft als verjährt an. Der Angeklagte hat viele der ihm vorgeworfenen Taten gestanden. "Er hat detailliert geschildert, wie er vorgegangen ist," sagte der federführende Staatsanwalt Stéphane Kellenberger. "Die Psychiater und Psychologen haben in allen Facetten zusammengetragen, dass es sich um eine besonders atypische Persönlichkeit handelt."

Missbrauch von sedierten Kindern

"Ich habe Angst, ihn zu sehen, obwohl ich so sehr auf diesen Tag gewartet habe", sagte die heute 42 Jahre alte Nebenklägerin Amélie Lévêque. Sie war nach Darstellung der Anklage im Alter von neun Jahren von dem Arzt missbraucht worden, als sie wegen einer Blinddarmentzündung im Krankenhaus behandelt wurde. Lévêque erfuhr - wie viele der Opfer - erst im Erwachsenenalter, was ihr widerfahren war.

Zum Zeitpunkt des vorgeworfenen Missbrauchs befanden sich viele der Kinder in der Phase der Anästhesie, des Aufwachens, der Sedierung oder des Einschlafens, wie die Staatsanwaltschaft mitteilte. Sie waren sich des Missbrauchs somit nicht wirklich bewusst und konnten den Arzt später auch schwer anzeigen.

Den jahrzehntelangen Missbrauch hielt der Arzt detailreich in Tagebüchern fest, die Fahnder bei einer Durchsuchung sicherstellten, ebenso wie rund 300.000 kinderpornografische Fotos und Puppen. In den Tagebüchern war auch die Rede von sexuellen Handlungen an Puppen und Tieren.

In 111 Fällen wird dem Arzt schwere Vergewaltigung angelastet, so die Staatsanwaltschaft. Gutachter stellten bei den Opfern posttraumatische Syndrome, Blockaden und körperliche Beschwerden infolge psychologischer Belastungen fest. Teils traten diese auch erst ein, nachdem die Ermittler die Opfer aufsuchten und ihnen offenbarten, dass sie in ihrer Kindheit Missbrauchsopfer geworden waren.

Angeklagter bereits wegen Missbrauchs verurteilt

Wegen vier Missbrauchsfällen war der Arzt 2020 bereits zu 15 Jahren Haft verurteilt worden. Ins Rollen gebracht hatte die Ermittlungen 2017 die Anzeige einer Nachbarin, deren sechsjährige Tochter der Arzt im Garten missbrauchte. 2005 schon war der Mediziner wegen des Besitzes kinderpornografischer Bilder zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden, ohne dass dies disziplinarische Konsequenzen für seine Tätigkeit als Arzt hatte.

Wieso das Tun des Arztes in den vielen Jahren nicht in einer der Kliniken auffiel, in denen er arbeitete - auch dieser Frage gingen die Ermittler nach. Wie die Zeitung Le Monde unter Verweis auf die Ermittlungen berichtete, hatte von den rund 100 befragten Kollegen des Angeklagten keiner einen konkreten Verdacht. Lediglich zwei Ärzten kam der Chirurg komisch vor - Hinweise darauf an höherer Stelle blieben aber ohne Reaktion. Auch seine Ex-Frau will von dem fortgesetzten Missbrauch erst bei der Festnahme ihres früheren Gatten erfahren haben.

Bis zu 20 Jahre Haft

Skrupel angesichts seiner Taten hatte der Chirurg wohl nicht. "Während ich meine Morgenzigarette rauchte, dachte ich darüber nach, dass ich ein großer Perverser bin", zitierte Le Monde einen Tagebucheintrag des Angeklagten aus dem Jahr 2004.

Um die dem Arzt angelasteten Taten im bislang wohl größten Prozess in Frankreich um Kindesmissbrauch aufzuarbeiten, wurden in der Provinzstadt Vannes eigens Gebäude in der Nähe des Gerichts hergerichtet. Sie müssen den knapp 300 Opfern und ihren Anwälten Platz bieten. 265 Journalisten haben sich für den Prozess angemeldet. Das Verfahren soll bis Juni dauern. Dem pensionierten Arzt drohen bis zu 20 Jahre Haft.

Große Aufmerksamkeit nach Pelicot-Prozess

Das Gerichtsverfahren in Westfrankreich ist der zweite große Missbrauchsprozess in Frankreich binnen einiger Monate. Kurz vor Weihnachten war der Prozess von Avignon zu Ende gegangen, der weltweit für Aufmerksamkeit gesorgt hatte. Das dortige Gericht verurteilte den Rentner Dominique Pelicot wegen schwerer Vergewaltigung zu 20 Jahren Haft. Er hatte seine damalige Frau, Gisèle, über Jahre hinweg immer wieder mit Medikamenten betäubt, missbraucht und von Dutzenden Fremden vergewaltigen lassen. 50 mitangeklagte Männer verurteilte das Gericht zu Haftstrafen zwischen drei und 15 Jahren.

Mit Informationen von Cai Rienäcker, ARD-Studio Paris

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 24. Februar 2025 um 17:22 Uhr.