Ausweitung der Streiks in Frankreich "Man blockiert ein ganzes Land"
Der Raffinerie-Streik in Frankreich hält an. Und für heute hat das Linksbündnis NUPES zu einer Demo "gegen das teure Leben" aufgerufen. Die Streiks weiten sich aus. Der Beginn einer zweiten Gelbwesten-Bewegung?
Freitag auf einer Autobahntankstelle in der Nähe von Paris. Philippe klingt erschöpft. Der Rentner hat tagelang abgewartet, bis er sich zu einer Tankstelle aufgemacht hat. Er wollte denen, die arbeiten oder Kinder zur Schule bringen müssen, nicht den Sprit weg nehmen - seine Form der Solidarität. Aber jetzt braucht er Benzin, um zu seiner Enkelin zu kommen.
Er ist ratlos: "Ich weiß es auch nicht. Anscheinend gibt es in Frankreich keinen sozialen Dialog. Es ist immer das gleiche. Bei uns tendiert immer alles ins Extreme. Man blockiert ein ganzes Land. Heute die Raffinerie-Mitarbeiter, morgen die Bahn, übermorgen der Nahverkehr - so werden wir doch nie klarkommen."
Streiks weiten sich aus
Philippe meint die Ausweitung der Streiks. Nicht nur die Beschäftigten der Raffinerien haben die Arbeit niedergelegt, auch im größten Atomkraftwerk Frankreichs in Gravelines streiken die Angestellten schon seit Tagen.
Die Lokführer wollen kommende Woche Dienstag zuhause bleiben. Und für heute hat das Linksbündnis NUPES zu einer Demonstration "gegen das teure Leben" aufgerufen. Entsteht da gerade eine neue Gilet-Jaune-Bewegung?
Unterschiede zu den Gelbwesten
Remi Bourguignon, Verwaltungswissenschaftler und Spezialist für Soziale Bewegungen an der Université Est-Créteil in Paris, betont eher die Unterschiede zu den Gelbwesten:
"Der aktuelle Konflikt unterscheidet sich sehr von den Gelbwesten. Damals war das ja eine Graswurzelbewegung aus der Bevölkerung heraus. Diesmal aber stehen Gewerkschaften am Beginn der Bewegung. Also ein eher klassischer sozialer Konflikt. Und deshalb sehr anders als damals der Anfang der Gelbwestenproteste."
Linke CGT ruft zu landesweiten Streiks auf
Treiber ist diesmal die linke CGT. Sie hat im Gegensatz zu gemäßigteren Gewerkschaften die Einigung mit dem Ölkonzern TotalEnergies nicht unterschrieben. Stattdessen hat ihr Chef Philippe Martinez dazu aufgerufen, den Arbeitskampf auszuweiten: Der Kampf der Raffinerie-Mitarbeiter bei Total sei im Interesse aller Französinnen und Franzosen, und deshalb solle am Dienstag landesweit für höhere Gehälter gestreikt werden.
"Die Regierung hätte in ihrem Gesetz zur Stärkung der Kaufkraft Gehaltssteigerungen vorsehen müssen. Aber da wurde nichts gemacht. Man hätte zum Beispiel den Mindestlohn heraufsetzen können. Oder die Gehälter automatisch an die Inflation koppeln. Natürlich gibt es Verhandlungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer - aber die Regierung kann und muss einen gesetzlichen Rahmen setzen."
Regierung geht auf Konfrontation
Während die CGT also die nächste Stufe zündet, stellt sich die Frage: Hat Macrons Regierung den Moment verpasst zu vermitteln, zu moderieren?
Protest-Forscher Bourguignon bezweifelt, dass sie das jemals vorhatte: "Wir haben mit Emmanuel Macron eine Regierung, der es nicht so sehr auf die 'soziale Demokratie' ankommt, sondern eher auf Durchsetzungskraft und entschlossenes Handeln. Sie bezieht also Organisationen wie Gewerkschaften nicht wirklich ein. Die Regierung tut hier so, als gehe es lediglich um einen Konflikt innerhalb eines Unternehmens. Sie greift zwar ein, indem sie einzelne Arbeiter zum Dienst verpflichtet, aber sie hängt sich nicht in die Verhandlungen rein."
Am Ende könnte genau diese Strategie aufgehen. Mit den umstrittenen Zwangsverpflichtungen ist die Regierung ganz klar auf Konfrontation mit der CGT gegangen - mit Erfolg. Einige Hähne wurden wieder aufgedreht. Peu à peu verlässt wieder mehr Sprit die Lager.
Gewerkschaften in Konkurrenz
Auch die Konkurrenz zwischen den Gewerkschaften macht sich die Regierung zunutze, erklärt Bourguignon: "Das ist auch eine Schlacht der CGT gegen die Gemäßigten. Wenn der Arbeitskampf jetzt an Fahrt verliert, weil durch die Total-Vereinbarung mit den Gemäßigten und durch die Zwangsverpflichtungen, die der Staat ausgesprochen hat, doch wieder Sprit an die Tankstellen gelangt, dann werden die Reformer unter den Gewerkschaften als Sieger vom Platz gehen."
Und die CGT stünde als egoistischer Blockierer da. Bleibt die Frage, ob die Demonstration am Sonntag zu einem Aufbruch für eine neue soziale Protestwelle werden könnte. Bourguignon ist skeptisch: "Der Aufruf kommt ja vom Linksbündnis NUPES, das durch innere Konflikte sehr geschwächt ist und gerade nicht viel Gehör findet. Gemäßigte Linke in dem Bündnis sagen kaum etwas zu dem aktuellen Konflikt bei Total. Und die Gewerkschaften haben sich dem Aufruf zur Demo auch nicht offiziell angeschlossen. Ich glaube, das bleibt ziemlich begrenzt."
Druck auf beide Seiten
Eine neue Gelbwesten-Bewegung scheint sich also nicht zu formieren. Und wenn sich die Situation an den Tankstellen so weit entspannt, dass die Franzosen Ende kommender Woche in die Herbstferien aufbrechen können, kann die Regierung zumindest auf eine Atempause hoffen.