Halten oder abziehen? Wie wichtig ist die Front bei Bachmut?
Bachmut sei den Kampf nicht wert, hört die Ukraine aus dem Ausland immer wieder. Doch Selenskyj und sein Militär verstärken die Stellungen. Tatsächlich ist die Stadt mehr als ein Symbol. Ein Bericht aus dem Frontgebiet.
Schwer zu sagen, ob man sich irgendwann daran gewöhnt: An den schockartigen Knall der Haubitzen, die Einschläge der Granaten und an das hässliche Fauchen der Grad.
Fliegen die russischen Raketen über einen hinweg, ist alles gut. Schlagen sie ein, trifft es meist alte Leute. So wie gerade erst in Tschassiw Jar, als eine Grad in der Schule, eine zweite in einem Vorgarten detonierte. Zwei Tote, ein Verletzter.
Nachts werden Kämpfer nach Bachmut transportiert
Die Siedlung, nur vier Kilometer vom umkämpften Bachmut entfernt, ist zur strategischen Frontstadt geworden. Es leben nur noch wenige Menschen in Tschassiw Jar: Frauen, die ihre kranken oder gebrochenen Männer versorgen, Bauern, die nicht wissen, wohin mit sich und ihren paar Habseligkeiten. Fast jedes Haus hat Granattreffer abbekommen, die Wellblechdächer zerfetzt, die dünnen Backsteinmauern geborsten. Jetzt, Ende März, haben Panzerketten die Äcker gepflügt.
Im Umland hat das ukrainische Militär unter Tarnnetzen schwere Haubitzen in Stellung gebracht. Tagsüber deckt es die russischen Angreifer im Osten der Stadt mit Artilleriefeuer ein. Nachts, im Schutz der Dunkelheit, werden über Tschassiw Jar kleine Gruppen von Kämpfern nach Bachmut transportiert. Ihr Auftrag: Im Westen der Stadt die ukrainischen Schützengräben und Stellungen halten.
"Offenbar hat sich die Lage in Bachmut stabilisiert", Tobias Dammers, ARD Kiew, zu umkäpftem Bachmut
Alles, was Waffen tragen kann, kommt an die Front
Die Industriestadt Bachmut ist zwar verwüstet aber nicht dem Erdboden gleich gemacht. Sie hat sich in weiten Teilen in eine zerklüftete Ruinenlandschaft verwandelt. Wenn die Artillerie von Tschassiw Jar aus "arbeitet", wie es im Militärjargon heißt, steigen im Osten Bachmuts fahle Rauchwolken auf und verflüchtigen sich über dem, was noch übrig ist von der Stadt.
"Es gibt Fabrikgebäude, Lagerhallen mit Betonwänden, Untergeschosse, das ist gut zu verteidigen", sagt Oberstleutnant Sergij Osatschuk. Drei bis vier Monate seien seine Leute ununterbrochen vor Ort, drei bis vier Tage in den vorderen Linien, dann gehen sie zurück in etwas stabilere Positionen, um zur Ruhe zu kommen.
Alles, was Waffen tragen und schießen kann, wird dieser Tage mit dem Auftrag nach vorne geworfen, die Armee in den Stellungen zu verstärken: Neben dem Grenzschutz sind das auch Angehörige der Polizei, der Nationalgarde, der Territorialverteidigung, des Sicherheitsdienstes. Zwei Monate militärische Ausbildung müssen reichen, um der russischen Armee und den Wagner-Söldnern zu widerstehen. Die Stadt ist inzwischen nahezu eingekreist, auch die letzte Zufahrtsstraße gerät immer wieder unter Beschuss.
Alles, was Waffen tragen und schießen kann, wird derzeit nach vorne geworfen, um die Armee in den Stellungen zu verstärken. Zwei Monate Ausbildung müssen reichen, um der russischen Armee und den Wagner-Söldnern zu widerstehen.
Kriegsführung vom Westen nicht diktieren lassen
Bachmut müsse aufgegeben werden, haben amerikanische, auch deutsche Militärexperten in den zurückliegenden Wochen immer wieder erklärt: zu hoch der Blutzoll, zu gering der strategische Nutzen der Stadt. "Bachmut wird nicht aufgegeben", erwidert der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ein ums andere Mal und zeigt, dass sich das ukrainische Militär vom Westen die Kriegsführung nicht diktieren lässt.
Er hat der Stadt diese Woche einen Besuch abgestattet. Die Bilder vom Präsidenten, umringt von verdreckten, abgekämpften Soldaten, sind sorgfältig inszeniert. Sie sagen: "Ich bin einer von euch." Und es kommt an. Es stärkt den Durchhaltewillen der ukrainischen Kämpfer und bildet einen scharfen Kontrast zum russischen Präsidenten Wladimir Putin, der zur gleichen Zeit, abgeschirmt und in aufgeplusterter Steppjacke die von seiner Armee verheerte Hafenstadt Mariupol besuchte.
"Der Feind hat aus seinen Fehlern gelernt"
"Bachmut wird gehalten" - das sagt nicht nur Selenskyj, das sagen auch die ukrainischen Offiziere in Tschassiw Jar, die sich mehrmals am Tag tief unter der Erde in ihrem Kommandostand treffen.
Ihr Feind, sagt Kommandant Igor (Name geändert), habe aus seinen Fehlern gelernt. Die von der Wagner-Gruppe angeworbenen Ex-Häftlinge seien vor den ukrainischen Schützengräben gestorben, damit sich die russische Armee in den Wintermonaten für die erwartete Frühjahrsoffensive rüsten könne.
"Im Frühjahr", sagt Oberstleutnant Osatschuk, "werden uns gut ausgebildete russische Soldaten angreifen." Dem will die Ukraine zuvorkommen. Der Befehlshaber des ukrainischen Heeres, Generaloberst Oleksandr Syrskyj, hat seinerseits eine Gegenoffensive bei Bachmut angekündigt.
Dunkelgrün: Vormarsch der russischen Armee. Schraffiert: Von Russland annektierte Gebiete.
Bachmut ist nicht nur ein Symbol
So erschöpft sie auch sein mögen, die ukrainischen Bodentruppen verkämpfen sich nicht für ein bloßes Symbol. Bachmut ist einer der schwächsten Punkte an der 1200 Kilometer langen Front, die von Charkiw im Norden bis nach Cherson im Süden reicht.
Brächen die russischen Angreifer durch, wäre als nächstes das 20 Kilometer entfernte Kramatorsk an der Reihe, eine Stadt mit etwa 50.000 Einwohnern, die dem ukrainischen Militär als Aufmarschgebiet für die Verteidigungslinien und Rückzugsort für ausgelaugte Einheiten dient. Die Luftabwehrstellungen im Raum Kramatorsk sorgen dafür, dass über Bachmut kaum russische Kampfjets angreifen können. Es gäbe belastbare militärische Argumente, die Stadt zu verteidigen, sagen führende Militärs.
Für die Soldaten in den Schützengräben gibt es noch einen anderen Grund: Niemand im ukrainisch gehaltenen Teil des Donbass hat vergessen, was die russische Armee hinterließ, als sie im Frühjahr 2022 Städte und Dörfer im Donbass überrannte und fünf Monate später bei Isjum und Balaklija wieder zurück gedrängt wurde: Verbrannte Erde und Massengräber.
Tschassiw Jar ist nur wenige Kilometer vom umkämpften Bachmut entfernt. Fast jedes Haus hat Granattreffer abbekommen, nur noch wenige Menschen leben hier.
Leben zwischen Minen und Ruinen
Im Hinterland von Isjum führt die einzig befahrbare Straße an kilometerweit verminten Sonnenblumenfeldern vorbei, an ausgebombten Bauerndörfern und verwüsteten Kirchen. Was vom Rückzug übrigblieb, beschmierte Putins fliehende Soldateska mit dem russischen Siegzeichen Z.
Um die Mittagszeit ist Tschassiw Jar in hellgraue Rauchschwaden gehüllt. Ein beißender Explosionsgestank verpestet die Luft. Mitten im Gefechtslärm sitzt Jewgena auf einem Holzbänkchen und schaut in die Sonne. Sie ist 85 Jahre alt und sie sagt, ihr sei zu warm mit dem Schal, dem Kopftuch, den dicken Röcken. Der Winter sei endlich vorbei und das Wetter heute so schön. Hinter ihrem zertrümmerten Haus hängt frisch gewaschene Wäsche im Garten. Ein Mann radelt grüßend an ihr vorbei, ein anderer sammelt Brennholz.
Und zur gleichen Zeit kommt das Unheil in immer neuen Schüben über den Ort: Ein paar Minuten Ruhe, dann wieder infernalischer Kriegslärm, dann wieder das Frühlingsgezwitscher von Amseln und Meisen. Wie sollte man sich an diesen Irrsinn gewöhnen?