Migranten werden im Hafen von Dover von britischen Grenzschutzbeamten eskortiert.
analyse

Großbritannien Erst abschieben, dann Asylantrag prüfen

Stand: 20.06.2023 09:01 Uhr

Ein neues Gesetz soll das Asylrecht in Großbritannien weitgehend abschaffen. Noch liegt es im Oberhaus, doch das kann die Reform nicht mehr scheitern lassen. Dabei ist das Gesetz kaum mit dem Völkerrecht vereinbar.

"Ich habe einen Traum", erklärte die zum äußersten rechten Flügel der Tories gehörende Innenministerin Suella Braverman auf dem letzten Tory-Parteitag, "mein Traum ist, dass noch vor Weihnachten das erste Flugzeug mit Flüchtlingen nach Ruanda abhebt. Das wäre ein Sieg, das ist mein Traum und meine Obsession".

Bravermans "Traum" besteht ganz konkret darin, dass sogenannte "illegale Migranten", die derzeit vermehrt in kleinen Booten an der britischen Küste landen, ohne jede richterliche Überprüfung erst festgenommen, auf Schiffen vor der Küste oder in Kasernen festgehalten und anschließend in ein Drittland wie Ruanda ausgeflogen werden sollen, mit dem Großbritannien ein entsprechendes Abkommen hat.

Alles ohne Visum "illegal"?

Als "illegale Migranten" gelten für Braverman alle Menschen, die ohne gültiges Visum im Vereinigten Königreich landen. Ausnahmen für Kinder und Familien lehnt sie ab. Erst nach der Abschiebung sollen sie das Recht haben, Asyl zu beantragen.

Sollte der Antrag erfolgreich sein, gibt es aber keinen Weg zurück nach Großbritannien, sie müssten stattdessen in Ruanda bleiben. De facto ist das die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl in Großbritannien.

Der Gesetzesentwurf dürfte so auch kaum mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar sein. Oppositionsführer Keir Starmer erklärte zudem, dass der Entwurf gegen die Verpflichtung der Genfer Flüchtlingskonvention verstoße, die verlangt, dass Menschen unabhängig von ihrem Ankunftsweg ein Anrecht auf eine faire Anhörung haben.   

 

Das Völkerrecht - zunächst kein Faktor

Braverman ist sich dessen bewusst. Im Unterhaus konnte sie die Frage, ob ihr Gesetzesentwurf im Einklang mit dem Völkerrecht stehe, nicht beantworten. Im Vorwort des Entwurfs steht gar der interessante Satz, sie könne nicht eindeutig sagen, ob der Entwurf im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention stehe.  

Vorerst werde man den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) dann eben mit einem eigens dafür geschaffenen nationalen Gesetz ignorieren. Sollte das nicht gehen, müsse man aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ganz austreten, erklärte sie der Presse an anderer Stelle.

Es wäre ein Schritt, den bislang nur Russland und Weißrussland gegangen sind und den zumindest der derzeitige Premier Rishi Sunak wegen des zu erwartenden internationalen Aufschreis wohl eher nicht beschreiten möchte, auch wenn er das öffentlich nicht sagt. De facto lässt er seiner Innenministerin stattdessen freie Hand.

Das eigentliche Ziel dieses Gesetzentwurfs sei die Abschreckung von Schleppergangs, erklärt er, wenn er darauf angesprochen wird, wohlwissend, dass dieser Plan bislang so gar nicht aufgegangen ist. Im vergangenen Jahr war die Zahl der Bootsflüchtlinge mit 45.000 Menschen so hoch wie nie zuvor, die Zahl der Asylanträge stieg im Vergleich zum Vorjahr um 30 Prozent auf 75.000.

Wenig praktikabel und extrem kostspielig

Das Vorgehen der britischen Regierung sei damit an Zynismus kaum zu überbieten, erklärte die Opposition und zahlreiche Menschenrechtsorganisationen. Die geplanten radikalen Änderungen am Asylrecht sind nicht nur unvereinbar mit dem Völkerrecht, sie sind auch wenig praktikabel und außerdem extrem kostspielig, denn die zu erwartenden Auseinandersetzungen mit den Gerichten dürften teuer und langwierig werden.

Hinzu kommt, dass das Innenministerium bereits jetzt mit der Abwicklung der Asylanträge heillos überfordert ist. 160.000 Menschen warten zum Teil seit Jahren auf den Bescheid der Migrationsbehörde, ob sie im Vereinigten Königreich bleiben dürfen. Wie Inhaftierung und schnelle Abschiebung von zusätzlichen Flüchtlingen bewerkstelligt werden sollen, wenn das Asylsystem schon jetzt überlastet ist, auch darauf hat die Regierung bislang keine Antwort.

Gesetz nicht umsetzbar?

Viele Flüchtlingsorganisationen und Migrationsexperten halten das Asylgesetz deshalb rein praktisch für gar nicht umsetzbar. Hinzu kommt: Auch im Vereinigten Königreich herrscht massiver Arbeitskräftemangel, viele der Flüchtlinge und Migranten würden gebraucht, und könnten dabei helfen, die britische Wirtschaft wieder anzukurbeln, anstatt zusätzlich den Staatshaushalt zu belasten.

"Invasoren" und eine "Front"

Stattdessen dreht Braverman die Rhetorik der Angst weiter hoch. Im Oktober erklärte sie die an der Küste ankommenden Menschen zu "Invasoren"; ein Begriff, der bis dato nur von der rechtsextremen Szene auf der Insel benutzt wurde und von Braverman so hoffähig gemacht wurde. Die BBC berichtete kurz darauf, die Innenministerin werde nun selbst vor Ort überprüfen, "wie sich das Vereinigte Königreich an der Front gegen Migranten verteidigen könne".

Braverman bediente diese Sprache anschließend mit den dazu passenden Bildern, als sie ein Flüchtlingszentrum mit einem militärischen Helikopter anflog. Ein bewusst inszenierter Auftritt, denn sie kam an dem Tag aus dem nur Kilometer entfernten Dover; mit einem Auto wäre sie schneller und einfacher vor Ort gewesen. 

Blick auf den Wahlkampf

Wie beim Brexit werden hier Probleme geschaffen, die in Großbritannien derzeit keine sind. Die im Vergleich zur EU geringe Zahl von einigen zehntausend Menschen, die jährlich an den Küsten des Vereinigten Königreichs ankommen, sollten in einem Land mit 67 Millionen Menschen relativ leicht zu verkraften sein, so Migrationsexperten.

Das Thema eignet sich allerdings hervorragend als Waffe für den ab Herbst anstehenden Wahlkampf in Großbritannien, und hier dürfte auch der eigentliche Grund dafür liegen, warum der sonst eher pragmatische Premier Sunak seine Innenministerin weiter gewähren lässt.

Denn auch wenn man keine praktikable Lösung für das Flüchtlingsthema hat - mit dem neuen Gesetz sind es dann die Brexit-Gegner, die Gerichte und die "aktivistischen Rechtsanwälte", denen man den schwarzen Peter für die angebliche Flüchtlingswelle an den britischen Küsten zuschieben kann - eine Rhetorik, die unter Boris Johnson begonnen hatte und die Sunak gemeinsam mit seiner Innenministerin weiterführt.

Dass durch dieses großangelegte Ablenkungsmanöver so ganz nebenbei auch das Vertrauen in den Rechtsstaat und die britische Justiz weiter unterminiert wird, nimmt Sunak dafür offenbar in Kauf. Sein großes Mantra zu seinem Amtsantritt, mit ihm werde nach Johnson nun endlich wieder "moralische Integrität und Professionalität" in die Politik einziehen, ist offenkundig so viel wert wie die Versprechen seines Vorgängers.

Und so dürfte sich die aggressive Rhetorik gegenüber Flüchtlingen in Großbritannien in den nächsten Monaten deutlich verschärfen, während eine Lösung für die im Vereinigten Königreich weiter strandenden Asylbewerber vorerst in weite Ferne rückt.