Regierungskrise in London "Game over" für Johnson?
Die politische Zukunft von Boris Johnson hängt nach dem Rücktritt von Ministern und weiteren Abgeordneten am seidenen Faden. Der Unmut in seiner Konservativen Partei ist gewaltig. Heute gibt es einen weiteren ungemütliche Termin für den Premier.
Die Rücktrittsforderungen gegen den britischen Premierminister Boris Johnson werden immer lauter. Mehrere Abgeordnete seiner Konservativen Partei sowie Medien wie die "Times" forderten den Regierungschef auf, sein Amt aufzugeben.
Murrison: "Um Himmels willen, hau ab"
"Meine Botschaft an Boris wäre: Um Himmels willen, hau ab", sagte der Tory-Parlamentarier Andrew Murrison, der zuvor als Staatsminister für Nordirland zurückgetreten war, der BBC. Der bisherige Vize-Generalsekretär der Partei, Bim Afolami, kritisierte Johnsons Vorgehen im jüngsten Skandal um Belästigungsvorwürfe gegen einen ranghohen Tory als "wirklich erschreckend". Er könne dieses Verhalten nicht länger verteidigen, sagte Afolami, der ebenfalls zurücktrat, der BBC.
"Es ist Zeit für Boris zu gehen", sagte der Tory-Abgeordnete Andrew Bridgen, einer von Johnsons schärfsten Kritikern, dem Sender Sky News. "Er kann das noch ein paar Stunden hinauszögern, wenn er will. Aber ich und ein großer Teil der Partei sind jetzt entschlossen, dass er bis zur Sommerpause weg muss: je früher, desto besser."
Zeitungen: Premier "am Rande des Abgrunds"
Gleich mehrere Blätter titelten, Johnson stehe nach knapp drei Jahren Amtszeit am Abgrund. So forderte die konservative "Times" in ihrem Leitartikel den Premierminister auf, zum Wohle des Landes zurückzutreten - "Game over", das Spiel sei aus. "Jeder Tag, den er im Amt bleibt, verstärkt das Chaos", so die "Times". Auch "The Guardian" und die "Financial Times" sahen Johnson "am Abgrund", während Johnsons früherer Arbeitgeber "The Daily Telegraph" schrieb, der Premier hänge nur noch "an einem dünnen Faden".
Opposition fordert Neuwahlen
Die Opposition forderte umgehend Neuwahlen. Es sei "klar, dass diese Regierung jetzt zusammenbricht", erklärte Oppositionsführer Keir Starmer von der Labour-Partei. "Die Tory-Partei ist verdorben und es wird nichts in Ordnung bringen, lediglich einen Mann auszutauschen."
Am Dienstagabend waren sowohl Finanzminister Rishi Sunak als auch Gesundheitsminister Sajid Javid zurückgetreten. Beide verbanden dies mit Vorwürfen gegen den Partei- und Regierungschef, er beschädige den Ruf der Konservativen.
Mit Quince, Trott und Walker weitere Rücktritte
Am Morgen traten dann Bildungsstaatssekretär Will Quince, der Johnson oft verteidigt hatte, ebenso zurück wie die Abgeordnete Laura Trott, die einen Posten im Verkehrsministerium innehatte. Auch Robin Walker, Staatsminister für Schulstandards, trat zurück - der bislang letzte in einer Reihe von Abgängen aus Protest gegen Johnsons Führung.
Unterstützung vom neuen Finanzminister
Und Johnson? Der will offenbar weiter regieren. Auf die Rücktritte seiner Minister reagierte der Premier umgehend und schloss die Lücken im Kabinett bereits wieder: Johnson machte seinen bisherigen Stabschef, Steve Barclay, zum Gesundheitsminister. Zudem berief er Nadhim Zahawi, bisheriger Bildungsminister, zum neuen Finanzminister. Dieser nahm Johnson in Schutz. Der Regierungschef sei integer und "entschlossen, zu liefern", sagte Zahawi dem Sender Sky News. Johnson habe sich für sein Verhalten im Fall Pincher entschuldigt, nun gehe es darum, das Land voranzubringen. Zahawi gilt selbst als möglicher Nachfolger Johnsons, dementierte aber aktuelle Ambitionen.
Vielmehr verteidigte er seine Arbeit für den Premierminister: "Man macht diesen Job nicht, um ein einfaches Leben zu haben. Jeden Tag trifft man harte Entscheidungen. Manchmal ist es einfach abzuhauen, aber es ist viel schwieriger, für dieses Land zu liefern."
Eine Entschuldigung, die wohl nicht reichte
Auslöser des Politbebens war, dass Johnson den konservativen Abgeordneten Chris Pincher in ein wichtiges Fraktionsamt hievte, - zum sogenannten Vize-Whip, der dafür zuständig ist, für Fraktionsdisziplin zu sorgen - obwohl ihm Vorwürfe der sexuellen Belästigung bekannt waren. Die Minister-Rücktritte erfolgten wenige Minuten, nachdem Johnson sich am Dienstagabend dafür entschuldigt hatte, Pincher zum stellvertretenden Parlamentarischen Geschäftsführer gemacht zu haben. Pincher war Ende vergangener Woche zurückgetreten. Dabei wurde bekannt, dass es bereits in der Vergangenheit Vorwürfe gegen ihn gegeben hatte.
Ein Regierungssprecher hatte zunächst dementiert, dass Johnson von den alten Vorwürfen gegen Pincher gewusst habe. Diese Verteidigungslinie brach am Dienstag zusammen, nachdem ein ranghoher früherer Beamter erklärte, dass Johnson bereits 2019 über einen entsprechenden Vorfall informiert worden sei. Oppositionsabgeordnete und einige Tories bezichtigten den Premier daraufhin der Lüge.
Harter Tag für Johnson
Johnson steht heute ein harter Tag bevor: Er muss sich zunächst der wöchentlichen Fragerunde des Unterhauses stellen. Dann steht eine Befragung durch die Vorsitzenden der wichtigsten Parlamentsausschüsse an, unter denen sich auch wichtige parteiinterne Kritiker des Premiers befinden. Allerdings hat Johnson in den vergangenen Jahren eine Reihe von Skandalen und Affären überstanden.
Mitte Mai war ein Abgeordneter unter Vergewaltigungsverdacht vorübergehend festgenommen worden. Ebenfalls im Mai wurde ein früherer Tory-Abgeordneter wegen sexuellen Missbrauchs eines Minderjährigen zu anderthalb Jahren Gefängnis verurteilt. Hinzu kommt der Skandal um Partys am Regierungssitz während des Corona-Lockdowns, der Premier Johnson ein parteiinternes Misstrauensvotum eingebracht hatte. Der Premier hatte die Abstimmung Anfang Juni nur knapp überstanden.