Ukraine gedenkt der Irpin-Opfer "Brückentrümmer als Symbol für zerbrochene Leben"
Verzweifelte Menschen, die versuchen vor den Russen zu fliehen. Die Bilder aus Irpin gingen um die Welt. Zwei Jahre danach fragen sich viele: Wie kann der Opfer gedacht werden, wenn weite Teile der Stadt noch immer in Trümmern liegen?
Über die neue vierspurige Romanowski-Brücke in Irpin fließt der Autoverkehr. Sie verläuft direkt neben den Trümmern der alten Brücke, die zu Beginn der russischen Großinvasion als "Brücke des Lebens" weltweit Schlagzeilen machte. Zehntausende kamen damals hier auf der Flucht aus Irpin durch. Die Invasoren hatten Vororte Kiews wie Borodjanka, Butscha oder Hostomel besetzt, die ukrainische Armee sprengte die Brücke in Irpin um einen russischen Vormarsch in Richtung Kiew zu verhindern.
Dabei wurde auch das Bürogebäude von Anton Mirontschuk beschädigt. Der 36-jährige Bauunternehmer steht neben der Brücke und erinnert sich an die Panik und das Chaos während der Evakuierung der Menschen. Zuerst habe es noch keine Bretter gegeben und die Menschen seien durch den Fluss Irpin gewatet. "Als die Brücke gesprengt wurde, haben wir die Explosion gehört", erzählt Mirontschuk. "Eine Gasleitung hat gebrannt und über dem eingestürzten Beton war Rauch. Ich konnte das erst gar nicht glauben."
Eilige Flucht in Richtung Kiew
Dann durchschlug eine russische Rakete das Bürogebäude und ein Sicherheitsmann wurde dabei getötet, erinnert sich der Bauunternehmer. Er habe Gefühle gehabt wie nie zuvor. "Es war eine bestimmte Art von Schmerz und etwas absolut Neues", versucht Mirontschuk die Eindrücke von damals zu beschreiben. "Niemand war auf dieses Gefühl vorbereitet. Es ist nicht angenehm, sich daran zu erinnern."
Unter dem nicht gesprengten Teil der Brücke warteten die gestressten Menschen damals, um mithilfe von Armee und Freiwilligen über eilig ausgelegte Holzplanken über das kalte Wasser zu balancieren. Ob im Kinderwagen oder Rollstuhl - nur weg von Irpin in Richtung Kiew.
"Unsere Widerstandskraft hätte zerbrechen können"
Unter den grauen Betonbrückenpfeilern sind kleine Gedenkorte entstanden. Die Spuren der Evakuierung sind nach wie vor zu sehen. Bunte Stofftiere, Fotos von bepackten - oft weinenden - Menschen, ein umgestürztes zerschossenes Autowrack, weiße Papierengel oder ein kaputter Kinderwagen erinnern an den Weg über die "Brücke des Lebens". An einem der Pfeiler ist der Kopf von einem teufelsähnlichen Porträt des russischen Präsidenten Wladimir Putin gemalt. Das teufelsrote Gesicht ist umgeben von einem großen Haufen weißer Totenköpfe.
Für die Architektin Sorjana Tichontschuk ist die Symbolkraft der Irpiner Romanowski-Brücke riesig. Ginge es nach ihr würden die Trümmer bleiben, denn diese seien ein Symbol dafür, dass es einen Moment gegeben habe, in dem die Ukraine alles hätte verlieren können. "Unsere Widerstandskraft, unsere Einheit und unser Land hätten hier zerbrechen können", sagt die Architektin. "Es geht um eine zerbrochene Brücke und um die zerbrochenen Leben der Menschen. Die ist ein Symbol der Erinnerung für künftige Generationen."
Lokale Projekte für unterschiedliche Orte der Erinnerung
Der Wind weht Sorjana Tichontschuk die dunklen Haare ins Gesicht, als sie lebhaft von ihren Ideen erzählt. Sie würde einen gläsernen Sarkophag über die Trümmer bauen, mit Lichtinstallationen arbeiten und weitere Orte der Umgebung miteinbeziehen, die bei der Evakuierung der Menschen aus Irpin wichtig waren.
Die 37-Jährige engagiert sich im sogenannten Irpin Reconstruction Summit, einer ehrenamtlichen Initiative, die mit der Gemeinde Irpin zusammenarbeitet. Gemeinsam mit etwa 200 - auch ausländischen - Architektinnen und Architekten, Stadtplanern, Designern, Fundraisern und Projektmanagern entwickelt Tichontschuk Projekte für lokale Orte der Erinnerung.
"Wir möchten die lokalen Erlebnisse vor Ort betonen", sagt die Architektin Sorjana Tichontschuk.
Es gehe nicht um staatliche Erinnerungskultur und große Mahnmale wie beispielsweise für die Anschläge am 11. September 2001 in den USA oder große Holocaust-Gedenkstätten, betont die Architektin. "Wir möchten die lokalen Erlebnisse vor Ort betonen", erläutert sie. Jeder habe eigene Erfahrungen.
Bei der Debatte über die Romanowski-Brücke sei einer der Projektarchitektinnen wichtig gewesen, das tragische Moment zu erhalten, weil die Menschen sonst nichts lernten. Die öffentliche - zum Teil auch kontrovers verlaufende - Debatte über die "Brücke des Lebens" ist nicht abgeschlossen. Sponsorengelder und konkrete Entscheidungen gibt es bisher nicht - und in Irpin gibt es viele weitere Baustellen.
Rund 70 Prozent der Gebäude in Irpin wurden zerstört
Als das ukrainische Militär Irpin am 28. März 2022 zurückeroberte, lag ein Großteil der ehemals grünen Kleinstadt in Schutt und Asche. Nach Angaben der Stadt Irpin wurden seit Beginn des Angriffskrieges am 24. Februar 2022 mehr als 300 Zivilisten durch russische Soldaten und 38 Angehörige der Territorialverteidigung getötet.
Wohnhäuser, Schulen, Krankenhäuser, Kindergärten, Schienen und Parks wurden zerbombt. Rund 70 Prozent aller Gebäude wurden laut Angaben der Gemeinde zerstört. Allein 500 Hochhäuser seien beschädigt, 80 würden repariert, fast 40 stünden vor dem Abriss. Auch das zerschossene Hochhaus mit der "Ballerina" vom Künstler Banksy wurde abgerissen. Das Kunstwerk wird nun im Stadtzentrum ausgestellt.
Die "Ballerina" vom Künstler Banksy wird nun im Stadtzentrum ausgestellt.
Den 28. März würdigte Irpin mit einer Reihe von Veranstaltungen, unter anderem mit einem Gedenkgottesdienst für die gefallenen ukrainischen Soldatinnen und Soldaten, einem "Buch der Erinnerung" und Konferenzen, bei denen über den Wiederaufbau und das Gedenken diskutiert wurde.
Mirontschuk: Wohnungen sind wichtiger als Gedenkorte
Die meisten der Bewohnerinnen und Bewohner sind nach Angaben der Gemeinde im April und Mai 2022 zurückgekehrt. Anfang 2023 lebten in Irpin etwa 65.000 Menschen, darunter etwa 20.000 Binnenvertriebene.
Viele Stadtteile wurden zerstört - vor allem die, die in Richtung Butscha und Hostomel liegen. Für den Bauunternehmer Mirontschuk sind Wohnungen und der Wiederaufbau in dieser Zeit wichtiger als ein Gedenkort an der Romanowski-Brücke. Der Bauunternehmer deutet in Richtung einer Großbaustelle mit hohen Kränen und Hochhäusern, wo unter seiner Regie Tausende neuer Wohnungen entstehen. Die Gemeinde könne den Wiederaufbau nie und nimmer alleine bezahlen und brauche Geld und Aufmerksamkeit, sagt er. Er wolle einfach glauben, dass die Ukraine das erreichen könne. "Das wir es nicht schaffen könnten? Daran will ich gar nicht denken."