Halyna Krawtschnko und ihre Tochter Katya
Reportage

Krieg gegen die Ukraine Die Tochter aus Feindesland zurückgeholt

Stand: 28.03.2023 10:15 Uhr

Es sollte ein zweiwöchiger Schulausflug auf die Krim werden. Doch die russischen Besatzer ließen Katya nicht gehen. Dann holte Mutter Halyna ihre Tochter mit einer abenteuerlichen Reise zurück.

Von Andrea Beer, ARD Kiew

"Mir geht es einfach nur gut", sagt Halyna Kravtschenko aus Cherson und lächelt. Die 33-Jährige war noch nie außerhalb der Ukraine. Nun hat sie in einer abenteuerlichen Tour ihre Tochter zurückgeholt. Sie reiste über Polen, Belarus und Russland auf die von Russland besetzte Krim und wieder zurück. Eine Fahrt in Feindesland.

"Fühlt ihr, das ist unsere Erde?"

"Ehrlich gesagt kann ich das gar nicht erklären", sagt Halyna. "Ich bin jetzt schon ein bisschen ruhiger, weil ich wieder in der Ukraine bin." Als sie mit den Mädchen über die Grenze gegangen seien, habe sie gesagt: "Fühlt ihr, das ist unsere Erde?"

Auf dem fremden Gebiet habe sie ja keine Rechte, sagt Halyna. "Sobald sie hören, dass du aus der Ukraine kommst, dann werfen sie schon solche Blicke auf dich." In Moskau hätten sie neun Stunden gesessen und ihnen sei gleich gesagt worden, dass sie als Cherson-Mütter sofort zu erkennen seien.

Katya sitzt neben ihr auf dem Sofa, Mutter und Tochter nehmen sich immer wieder in den Arm. "Ich freue mich, alle wieder zu sehen", sagt die 14-Jährige. Aber ihre Mutter habe schon "wieder angefangen, mich zu erziehen". Katya habe angefangen zu rauchen, antwortet ihre Mutter. "Und wenn ich etwas sage, dann fährt sie sofort die Stacheln aus. Wie ein Igel."

Hilfsorganisation holte bislang 60 Kinder zurück

Zwei Tage zuvor zogen Mutter und Tochter ihre Koffer bei Mokrany über die ukrainisch-belarusische Grenze. Sie reden nicht, sondern steigen müde und abgekämpft in den wartenden Kleinbus der ukrainischen Organisation Save Ukraine. Diese hilft verzweifelten Eltern, ihre verschleppten Kinder aus Russland und russisch besetzten ukrainischen Gebieten zurückzubekommen.

Mit Katya kommen an diesem Tag 15 weitere Menschen zurück. Damit hat Save Ukraine bisher um die 60 Kinder und Jugendliche zurückgeholt. Gemeinsam mit Halyna hätten elf Mütter und Großmütter die Reise aus dem ukrainisch kontrolliertem Gebiet des Landes über Belarus und Russland auf die russisch annektierte Krim und wieder zurück gewagt, wie Olga Yerokhina von Save Ukraine sagt. Die Kinder waren angeblich zur Erholung dorthin gebracht worden und kehrten nicht zurück.

Das sei ein großer Umweg, sagt Olga. Die Frauen seien über Lwiw nach Polen und von dort aus über Belarus nach Moskau gefahren. Es sei absurd und zynisch, sich vorzustellen, wie diese Mütter und Großmütter aus Cherson und Umgebung im Süden der Ukraine auf die nahe gelegene Krim fahren mussten, um ihre Kinder nach Hause zu bringen.

"Mit den Russen kooperieren wir nicht"

"Mit den Russen kooperieren wir nicht, und wir verabreden auch nichts", sagt Olga. Die Mütter haben die Adresse der Unterkünfte und ein paar Telefonnummern. Sie sind in Kontakt mit ihre Kindern, denn diese haben in der Regel ein Handy.

Die Freiwilligenorganisation regele alles, sagt Olga: das Finanzielle sowie soziale und psychologische Fragen. Sie stellten Busse, und die Fahrer von Save Ukraine begleiteten die Mütter und Großmütter. Sie seien immer in Verbindung und kontrollierten alles. "Wenn es gut läuft, steigen die Kinder in den Bus und fahren mit den Müttern zurück."

Schule weist jegliche Verantwortung zurück

Als Katya Anfang Oktober auf die Krim fuhr, war Cherson noch russisch besetzt. Ihre Schule hatte alles organisiert, entzieht sich heute aber jeder Verantwortung. Auch die ukrainischen Lehrerinnen seien irgendwann verschwunden, sagt Katya. Sie selbst sei immer wieder vertröstet worden.

"Wir haben gefragt, wann wir nach Hause können, aber sie sagten: 'Wenn Cherson russisch wird'", erzählt Katya. Sie hätten sie sechs Monate lang nicht gehen lassen.

Die Rückfahrt nach Cherson sei zu gefährlich, das wird auch den Eltern immer wieder gesagt. Auch die 14-jährige Dajana bekommt das zu hören. Gemeinsam mit Katya gelingt Dajana und ihrer Mutter die Rückkehr von der Krim auf ukrainisch kontrolliertes Gebiet.

"Wenn ihr hierbleibt, verlieren eure Eltern das Sorgerecht für euch", bekommt sie immer wieder zu hören. Zudem habe es geheißen, die Lage in Cherson sei gefährlich. Laut Gesetz sei es verboten, ein halbes Jahr ohne Eltern zu sein, sagt Dajana. Obwohl das nicht legal ist, drohen russische Besatzer auch Katyas Mutter Halyna mit dem Entzug des Sorgerechts für ihre Tochter. Über Social Media hatte sie zumindest Kontakt zu ihrer Mutter, doch gegen die russische Einflussnahme vor Ort musste sie sich allein wehren.

"Ich bin einfach weggelaufen"

Ausreichend Essen, Sport, Unterricht, abends mal in die Disco oder einen Film gucken: Der Tag sei sehr geregelt verlaufen. Doch sie seien gezwungen worden, "Vorwärts, Russland!" zu singen, als Kontrolleure aus Moskau kamen, sagt Katya. Jeden Morgen wurde die russische Hymne gespielt während des Trainings. In der Unterkunft hätten sie die Mädchen mit dieser Hymne geweckt. In die Schule sei sie selten gegangen, sagt Katya. "Sie haben mich gezwungen, ich bin einfach weggelaufen."

Auf dem Sofa drückt Halyna Katya erneut an sich. Die aufreibende Fahrt habe sie nur mit Beruhigungsmitteln durchgestanden. Doch sie würde sie jederzeit wieder antreten, die Fahrt in Feindesland. Denn eines ihrer Kinder alleinlassen würde sie nie. "Ich wusste, dass ich das Kind holen würde. Ich weiß, wie es ohne Eltern ist", sagt Halyna.

Sie sei ohne Mutter und Vater aufgewachsen, ihnen sei das Sorgerecht entzogen worden. "Und so bin ich im Leben stark geworden."

Andrea Beer, Andrea Beer, ARD Kiew, 28.03.2023 09:14 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete NDR Info am 28. März 2023 um 12:48 Uhr.