Kiew vor zehn Jahren Tage des Grauens auf dem Maidan
Vor zehn Jahren kam es auf dem Kiewer Maidan zu einem Massaker an Demonstranten, die für die Annäherung der Ukraine an die EU kämpften. Unser damaliger Korrespondent beschreibt Tage, die die Ukraine nachhaltig veränderten.
In Sicherheitstrainings wird Journalisten empfohlen, in gefährlichen Situationen in Städten Schutz an Häuserwänden zu suchen, nicht auf der Straße zu gehen. "Sobald die Sicht frei wird, wenn ihr Straßen überqueren müsst, rennt ihr", raten einem ehemalige Elitesoldaten in solchen Kursen.
Es sind Hinweise, von denen man hofft, dass man sie als Korrespondent nie anwenden muss. Doch am 20. Februar 2014 wird es nötig, sich an die Ratschläge zu halten, denn in der ukrainischen Hauptstadt Kiew wird scharf geschossen.
Seit Ende November protestieren hier Zehntausende gegen die Regierung von Präsident Viktor Janukowitsch, der ein ausgehandeltes Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterzeichnen will, offenkundig auf Druck Russlands. Die Demonstranten harren auf dem Platz aus, sie werden trotz brutaler Polizeieinsätze immer mehr - bis die Lage Ende Februar völlig eskaliert.
Die Gefahren auf dem Weg
Von der Wohnung, in der der ARD-Hörfunk damals ein kleines Studio hat, sind es nur wenige Hundert Meter bis zum Maidan im Zentrum der Stadt, aber der direkte Weg wäre lebensgefährlich, denn am Rande der Institutska-Straße liegen Scharfschützen.
Zum Maidan geht es stattdessen in einem großen Bogen. Der Weg führt einen Hügel hinunter bis zum Chreschtschatik, der am Maidan entlang führt. Früher eine Prachtstraße, heute mit Barrikaden zugebaut. Schon von Weitem sieht man den Rauch, immer noch fallen Schüsse.
Der Maidan selbst ist nicht wiederzuerkennen. Das Haus der Gewerkschaften ausgebrannt, die Pflastersteine rausgerissen, alles ist schwarz. Von den Zelten, die die Demonstranten hier über Wochen aufgeschlagen hatten, sind nur noch verkohlte Überreste da.
In die Falle gelockt
In den Gesichtern der Menschen ist der Horror zu lesen. Die ganze Nacht über hatten sie sich Straßenschlachten mit der Polizei geliefert. Steine geworfen, Molotowcocktails. Am Morgen ziehen sich die Polizisten plötzlich zurück, vorbei am Hotel Ukraina, die Institutska-Straße hoch. Demonstranten laufen hinterher - und in ihren Tod. Sie werden erschossen.
Später zeigen Filmaufnahmen uniformierte Scharfschützen mit Spezialgewehren. Es sterben auch Polizisten, möglicherweise durch Schüsse aus den Reihen der Demonstranten. Auf dem Maidan liegen am Morgen zerschossene Helme und Schilde, teils selbst gebaut, teils von der Polizei erbeutet.
Tote in der Hotellobby
Es geht dann weiter über den Platz zum Hotel Ukraina, wo ein Zimmer für den Korrespondenten reserviert ist, doch es stellt sich heraus: Der Eingang ist zunächst blockiert. Ein Arzt kommt heraus, hinter ihm sechs Männer mit einer Trage. Auf ihr liegt ein durch einen Kopfschuss schwer verletzter Mann, überall auf der Bahre ist Blut. Kameraleute gehen hinterher und halten ihre Objektive in Richtung des Schwerverletzten.
In der Hotel-Lobby bietet sich ein seltsames Bild. Die rechte Seite ist mit Tüchern verhängt, die linke Seite zum Operationssaal geworden. Freiwillige Ärzte und Krankenschwestern stehen vor ganz normalen Tischen, auf denen Verletzte liegen. Überall Blut, die Stimmung gespenstisch ruhig. Helferinnen wischen die Tischplatten notdürftig sauber.
Die Damen an der Hotelrezeption weinen. Hinter den aufgespannten Tüchern hört man Frauen wimmern. Erst jetzt wird klar, die Vorhänge nehmen den Blick auf die Toten, die dort liegen und betrauert werden. Der Tod hinter weißen Tüchern.
Besser nicht die Treppen benutzen
Das Hotel Ukraina ist ein typischer Sowjetbau, ein Hochhaus mit 16 Stockwerken. Es liegt etwas erhöht über dem Maidan. Von hier aus hat man einen idealen Blick auf den Platz der Unabhängigkeit, wie der Maidan eigentlich heißt.
Das Zimmer ist im vierten Stock. Auf dem Weg dorthin im Treppenhaus von Gewehrkugeln durchlöcherte Scheiben. Ein Kollege empfiehlt, mit dem Fahrstuhl zu fahren und nicht Treppen zu steigen. Sicher ist sicher. Immer noch fallen draußen Schüsse.
Das Zimmer selbst geht zur Institutska-Straße raus. Dort haben die Scharfschützen gelegen. Vielleicht liegen sie noch da. Gardine zuziehen, Licht löschen - auch gelernt im Sicherheitstraining. Ein schneller Blick in die Nachrichtenagenturen - die Rede ist von 80 Toten. Ein gutes Dutzend von ihnen liegt hinter den Vorhängen unten in der Lobby.
Wochen später berichtet ein Sportwissenschaftler, er habe sich die Filmaufnahmen von dem Tag genau angeschaut. Die Bewegungsabläufe der Scharfschützen, als sie auf die Demonstranten anlegen, zeigten, dass es sich um absolute Profis und nicht um einfache Polizisten gehandelt haben müsse.
Über Wochen harrten Demonstranten auf dem Kiewer Maidan aus, um für die Hinwendung ihres Landes nach Europa zu kämpfen. Am Ende stürzte die Regierung - und Russland begann, Teile der Ukraine zu okkupieren.
Suche nach Scharfschützen
In der Lobby des Hotels stellen sich Ärzte und Helfer zu einem Spalier auf. Die Vorhänge werden zur Seite gezogen und die Toten herausgetragen. Die Stehenden singen die ukrainische Nationalhymne, Tränen in den Augen. Diese Hymne war seit dem Beginn der Maidan-Proteste einmal pro Stunde zu hören gewesen, Tag und Nacht.
Am späten Abend hämmert es an die Zimmertür. Draußen steht ein junger Mann, ein Maidanaktivist, mit Helm und einem Metallschild. Er kommt rein, reißt die Gardinen zur Seite. Er wolle schauen, ob sich hier Scharfschützen versteckt hielten. Dann geht er wieder.
Berichterstattung in Deckung
An Nachtruhe ist dann kaum zu denken, Kleidung und Stiefel bleiben am Körper - im Falle eines Falles muss man schnell raus aus dem Gebäude. Immer wieder waren Journalisten gewarnt worden, dass das Hotel möglicherweise angezündet werden könnte, es sei ein strategisch wichtiges Gebäude, weil man von hier aus den Maidan überblicken kann.
Das Schlafen ist schwierig, der Körper voll Adrenalin. Als Mahlzeit dienen Kekse, Schokolade und Wasser, gekauft in einem kleinen Laden auf dem Weg ins Hotel. Das Hotelrestaurant hat schon vor Tagen aufgehört zu arbeiten.
Draußen brennt eine Barrikade. Der Feuerschein ist durch die geschlossene Gardine sichtbar. Die Nacht ist kurz. Vielleicht drei Stunden Schlaf, nicht tief, immer wieder unterbrochen durch Schüsse, beginnen am 21. Februar um 7 Uhr drei Stunden Livegespräche mit ARD-Radiosendern hinter dem Bett hockend, damit man für den Fall, dass jemand das Fenster beschießt, zumindest ein bisschen geschützt ist.
In den Gesprächen geht es immer wieder um die Toten, die Verletzten, die Ärzte. Danach der Entschluss: Sachen packen und raus hier, den Fahrstuhl nehmen, nicht das Treppenhaus. Die Lobby ist inzwischen aufgeräumt.
Schock und Jubel
Ein paar Meter sind es zurück zum Maidan. Zehntausende Menschen stehen dort, noch immer schockiert von dem, was einen Tag zuvor passierte. Mindestens 100 Menschen sind tot. Auf der großen Bühne stehen Polizisten aus Lwiw aus der Westukraine, die sich der Maidan-Bewegung angeschlossen haben. Sie werden bejubelt.
Auch der achtspurige Boulevard Chreschtschatik ist nun ein Revolutionsplatz geworden. Dahinter gilt es noch, eine letzte Barrikade zu passieren, meterhoch. Auf dem Maidan beginnt das Totengedenken.
Der Autor war von 2013 bis 2016 Hörfunkkorrespondent im ARD-Studio Moskau. In dieser Zeit berichtete er unter anderem von den Ereignissen in der Ukraine, war in Kiew, Donezk, Charkiw und Mariupol im Einsatz.