Krieg in der Ukraine "Russlands Propaganda läuft auf Hochtouren"
Noch ist unklar, was hinter dem Raketeneinschlag in Polen steckt. Die damit verbundene Aufregung aber kommt Russland gelegen, sagt Militärexperte Gressel. Das liegt auch daran, dass das Militär in einer Schwächephase steckt.
tagesschau.de: Nach dem Raketeneinschlag in Polen kursierten zunächst unterschiedliche Versionen, wie es dazu gekommen sein könnte, nun laufen die Ermittlungen. Wie wirkt sich die entstandene Unruhe - auch unter den Verbündeten der Ukraine - auf das weitere Geschehen aus?
Gustav Gressel: Noch kennen wir viele Details nicht. Die polnische Präsidentschaftskanzlei geht davon aus, dass es sich um eine ukrainische Flugabwehrrakete handelt, die in Polen eingeschlagen ist. Nun stellt sich die Frage: Auf welche Rakete wurde damit geschossen - also wo fand der russische Angriff statt, den sie eigentlich abwehren sollte? Was können wir daraus rückschließen auf das russische Angriffsverhalten?
So gibt es eine Stromtrasse, die von Polen in die Ukraine geht und für die Stromversorgung des Landes wichtig ist - dass Russland versucht haben könnte, diese anzugreifen, ist relativ wahrscheinlich. Wenn der Angriff wirklich so stattgefunden haben sollte, stellt sich die Frage: Ist Russland wirklich so dreist, so nah der polnischen Grenze ein Ziel zu beschießen? Man muss ja stets damit rechnen, dass bei Angriffen etwas danebengeht und die ausgelösten Folgen groß sein könnten...
Wenn sich herausstellt, dass die ukrainische Flugabwehrrakete einen technischen Defekt hatte - etwa wenn sie nach dem Start den Motor gezündet hat und dann der ballistische Modus griff, weil die Steuerungseinheit kaputtging, dann kann sie auch von relativ weit hergekommen sein und es wäre schlicht horrendes Pech, dass sie ausgerechnet dort niederging.
Gustav Gressel ist Politikwissenschaftler und Militäranalytiker beim European Council On Foreign Affairs in Berlin.
Viele Möglichkeiten für Aufklärung
tagesschau.de: Wann werden die Hintergründe wohl aufgeklärt sein?
Gressel: Ich bin da gespannt auf den Abschlussbericht der polnischen Behörden. Denn er wird viel darüber aussagen, inwieweit Russland in diesem Krieg die NATO ernst nimmt. Die Untersuchung wird zumindest mehrere Tage dauern.
Die polnische Luftwaffe verfügt über ein gutes Radar in Grenznähe, das wahrscheinlich etwas registriert hat, dann gibt es Daten der NATO-AWACS - also von Aufklärungsflugzeugen mit Radom, die ebenfalls sehr weit sehen. Auch die US-Army betreibt in Polen elektronische Luftaufklärung, unter anderem mit Drohnen. Es könnte aber bürokratische Verzögerungen bei Unstimmigkeiten darüber geben, inwieweit die Ermittlungserkenntnisse als geheim eingestuft werden.
Die Probleme der russischen Propaganda
tagesschau.de: Die nach dem Einschlag entstandene Aufregung unter den NATO-Bündnisstaaten kommt Russland aber sicher zupass ...
Gressel: Sicher! Die russische Propaganda läuft auf Hochtouren; sie versucht die ganze Zeit, solche Geschichten zu streuen: Die Rede ist da von der bösen Ukraine, die Polen angreife, den unverantwortlich-dilettantisch kämpfenden Ukrainern und so weiter.
Mit Polen hat die Desinformation sich allerdings eine harte Nuss ausgesucht. Russland ist dort so unbeliebt, dass das kaum verfangen wird. Eine Rolle spielt für Russland auch die Wirkung im eigenen Land: den Gegner lächerlich machen, die Moral der eigenen Truppe aufrichten.
Aber das russische Militär plant in vielen Dingen seine Aktionen so weit im Voraus und ist in seiner Organisation so unflexibel, dass ich eher skeptisch bin bei Einschätzungen, es handle sich bei Militärschlägen kurz nach bestimmten Einzelereignissen um eine direkte militärische Reaktion Russlands.
"Neue Ausgangslage" nach Chersons Befreiung
tagesschau.de: Jüngst hat die Ukraine unter großem Jubel Cherson zurückerobert. Welche neue militärische Ausgangslage ist entstanden?
Gressel: Beide Seiten, die ukrainische wie die russische, haben jetzt eine neue Ausgangslage, in der einige Faktoren für sie günstiger sind als zuvor. Die Ukraine hat sich einen Frontabschnitt gespart, an dem sie mindestens sieben Brigaden eingesetzt hat. Die kann sie jetzt zurückziehen und anderweitig verwenden, weil sie natürlich den Dnipro viel leichter verteidigen kann, indem sie zum Schutz gewisser Brücken Kräfte abstellt.
Auf der russischen Seite ist es so, dass in Cherson sehr viele Fallschirmjäger, Eliteverbände, Berufs- und Vertragssoldaten der ersten Welle eingesetzt waren. Die aus Cherson herauszuholen, um sie nach der Mobilmachung als erfahrene Kräfte den neu aufgestellten zur Seite zu geben und dort als Kommandanten und Spezialisten einzusetzen ist, ist für Russland sinnvoll - darauf hatte die Armeeführung auch schon länger gedrängt.
Nur stieß sie bei Kremlchef Wladimir Putin damit auf taube Ohren, weil die Aufgabe Chersons nach der prestigereichen Annexion nicht ins Konzept passte. Man muss auch sagen, dass sozusagen bei all dem, was schiefgegangen ist, dieser Rückzug relativ geordnet war für russische Verhältnisse und da wahrscheinlich relativ viel Personal und Gerät evakuiert werden konnte - letztlich ist das auch ein Teilerfolg.
Dunkelgrün: Vormarsch der russischen Armee. Schraffiert: Von Russland annektierte Gebiete.
"Den Hebel an der westlichen Unterstützung ansetzen"
tagesschau.de: Am Dienstag hat Russland erneut die zivile Infrastruktur in der Ukraine, vor allem die Energieversorgung, ins Visier genommen. Steckt dahinter weiterhin die Strategie, die Ukraine zu terrorisieren oder hat Russland schlicht keine anderen Angriffsmöglichkeiten mehr, da Waffen und Personal ausgehen?
Gressel: Für die russische Seite ist ein Problem, dass man jetzt in der Defensive ist, dass die ukrainische Armee jetzt stärker, motivierter und kampferprobt ist und die Initiative ergreift. Diese Schwächephase ist schwierig zu überbrücken. Deshalb sind diese Angriffe allein für die Moral, für den Durchhaltewillen, für das innenpolitische Zeigen von Stärke für Russland wichtig.
Sie haben aber auch einen indirekten militärischen Sinn: Es geht weniger darum, die ukrainische Armee zu schwächen, denn die ist relativ unabhängig von der zivilen Infrastruktur. Aber der Krieg will ja auch finanziert werden. Und er kostet die Ukraine zwischen 30 und 40 Millionen Euro pro Tag.
Je weniger sie selbst an Wirtschaftsleistung generieren kann, weil die Infrastruktur zerstört ist und Unternehmen durch lange Stromausfälle nur eingeschränkt produzieren können, desto mehr Geld muss das Land sich beschaffen, indem es im Westen Kredite aufnimmt oder auf Spenden zurückgreift.
All das bringt die Ukraine in eine immer größere Abhängigkeit vom Westen, weil natürlich nur die Europäische Union, die Vereinigten Staaten und Kanada das Geld und den Willen haben, diese Summen auszuleihen.
Und da ist jetzt auch Teil der russischen Strategie, den Hebel am Westen, an der westlichen Unterstützung anzusetzen - dazu zählt erstens die Propaganda, zweitens der Versuch, Russland gewogene Populisten wie Donald Trump in den USA wieder ein bisschen zu befördern, aber drittens auch die Auswirkungen solcher Schläge gegen die ukrainische Infrastruktur mit der Kalkulation: Inflationsschock, hohe Energiepreise - das wird dem Westen irgendwann zu teuer.
"Munitionsmangel größerer Hemmschuh"
tagesschau.de: Ende dieser Woche läuft das zwischen Russland und der Ukraine vereinbarte Abkommen über Getreideexporte aus. Wie schätzen momentan Sie die Chancen ein, dass eine Verlängerung gelingt?
Gressel: Ich schätze die die Chancen recht hoch ein, weil der Druck auf Russland relativ groß ist - nicht unbedingt aus dem Westen, sondern auch aus Ländern, die Russland vorher eher wohlwollend bis neutral gegenüberstanden. Die Staaten, die Russland etwa bei Ölpreis-Absprachen bislang die Treue hielten oder bei den Vereinten Nationen nicht verurteilten, sind alle auch abhängig von Getreidelieferungen aus der Ukraine oder sie sind zumindest Nettoimporteure von landwirtschaftlichen Gütern.
Das heißt: Selbst wenn sie nicht aus der Ukraine importieren, trifft ein weltweit gestiegener Getreidepreis sie empfindlich, weil er auch bei ihnen die Lebensmittelpreise, die Inflation und die Unzufriedenheit der Menschen treibt. Daher läutet das Beschwerdentelefon im Kreml momentan auf vielen Leitungen laut und Putin ist dementsprechend unter Druck, einzulenken.
"Wetter spielt eine größere Rolle als die Temperaturen"
tagesschau.de: In der Ukraine bricht nun der Winter an und verschärft die Not, die durch zerstörte Strom- und Energieversorgung in der Zivilbevölkerung entsteht. Aber spielt er auch militärisch eine Rolle?
Gressel: Eine größere Rolle als die Temperaturen spielt das Wetter. Wenn der Boden gefroren ist, es bitterkalt ist, begünstigt das die Offensive: Der Angreifer fährt im geheizten Panzer, der Verteidiger sitzt in einem Erdloch und friert. Man tut sich schwer beim Stellungengraben, aber selbst ein Radfahrzeug kommt auf gefrorenem Boden leicht vorwärts.
Wenn es aber regnet, die Temperatur immer wieder über Null steigt und dann sinkt, weicht der Boden auf, gefriert wieder, weicht wieder auf, dann entsteht Schlamm, der das Vorwärtskommen hemmt. Wir haben auch im September schon lange Regenperioden in der Ukraine gehabt, die die ukrainische Offensive behindert haben.
Die Ukrainer versuchen jetzt natürlich, die Gunst der Stunde noch zu nutzen: Die meisten von Russland mobilisierten Kräfte sind noch nicht in der Ukraine - so lange kann man leichter Territorium zurückerobern. Wenn die Kräfte ausreichen, kann es gut sein, dass wir bis zum Jahreswechsel noch eine weitere ukrainische Gegenoffensive auf besetztes Territorium sehen werden. Dabei ist Munitionsmangel aber der weit größere Hemmschuh als das Wetter.
Das Gespräch führte Jasper Steinlein, tagesschau.de.