Angriffe auf Sewastopol Schatten auf der "Stadt des russischen Ruhms"
Mit Angriffen auf das Hauptquartier und Schiffe der russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim hat die Ukraine die russische Armee empfindlich getroffen. Bei Ukrainern wächst die Hoffnung auf eine Rückeroberung.
Großes Fluchen und offensichtliche Angst begleiten das kurze Video, das einen ukrainischen Angriff Mitte September auf den Hafen von Sewastopol auf der von Russland besetzten ukrainischen Halbinsel Krim zeigen soll. "Feuer in Sewastopol", kann es der schimpfende Beobachter angesichts der Explosionen kaum fassen.
Fast zehn Jahre nach der Annexion durch Russland leben auf der Krim viele Russen und prorussische Menschen. Der Journalist Andryj Schschekun macht sich da keine Illusionen, auch wenn der Ukraine nahestehende Menschen - darunter Vertreter der Krimtataren - sehnsüchtig auf eine Rückeroberung warten. Viele würden dafür mit der ukrainischen Seite zusammenarbeiten - etwa beim Übermitteln sensibler Informationen über die Lage vor Ort.
Schraffiert: von Russland besetzte Gebiete
"Hauptsache, der Kühlschrank ist voll"
Schschekun ist Chefredakteur der Zeitung "Krimska Svetlytsa", die auf die Krim spezialisiert ist. Vor der Besatzung durch Russland 2014 sei die Mehrheit der Bevölkerung dort ziemlich gleichgültig gewesen, erzählt er in seiner Wohnung in einem Vorort von Kiew. "Wie man so schön sagt: Hauptsache, der Kühlschrank ist voll." Nur, wer die Ukraine verraten habe, habe jetzt Grund zur Panik, fährt der 50-Jährige fort. "Die Menschen beginnen, der russischen Armee zu misstrauen. Diese soll so mächtig sein - aber jetzt wurde Sewastopol getroffen. Ich denke, das ist der Anfang vom Ende."
Nach russischen Angaben traf es in dieser Nacht Mitte September zwei russische Kriegsschiffe, die gerade auf der Werft repariert wurden. 62 Menschen seien dabei getötet worden, teilten die Spezialkräfte des ukrainischen Militärs diese Woche beim Messengerdienst Telegram mit.
Ukraine rudert zurück
Gleichzeitig gaben sie den Tod von Viktor Sokolow bekannt. Der Kommandeur der russischen Schwarzmeerflotte sei einer von insgesamt 34 ranghohen russischen Militärs, die bei dem Angriff auf das Hauptquartier der Schwarzmeerflotte vergangenen Freitag getötet worden seien.
Russland bestätigte das bisher nicht, sondern veröffentlichte ein Video, auf dem Sokolow zu sehen sein soll. Von wann die Aufnahmen stammen, ist unklar. Dennoch ruderte das ukrainische Militär wieder zurück. Verfügbare Quellen hätten gesagt, Sokolow sei unter den Toten, doch die Informationen müssten nun geklärt werden. Der ukrainische Verteidigungsminister Rustem Umerow sagte CNN: "Wenn er (Sokolow) tot ist, ist es eine gute Nachricht für alle, dass wir weiter unsere Gebiete zurückerobern."
Monatelange Vorbereitung des Angriffs
Offenbar habe ein Treffen im Hauptquartier der Schwarzmeerflotte stattgefunden, vermutet Schschekun. Sewastopol sei ein Mythos bei den Russen, denn sie gelte als "Stadt des russischen Ruhms" und uneinnehmbar. Laut russischer Propaganda ist Sewastopol zudem der "Ruhm der russischen Streitkräfte". "Der Angriff der ukrainischen Armee auf Sewastopol hat alle Mythen über die angebliche Stärke und Macht der russischen Armee und Sewastopol zerstört - ihre 'Perle der Schwarzmeerflotte', wie sie sie nennen", meint Schschekun.
Kiew zerschoss das Herz der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol vermutlich mit "Storm Shadow"-Raketen, die Großbritannien geliefert hatte. Es war ein Aufsehen erregender Angriff, der mehrere Monate lang akribisch vorbereitet worden sein muss, ist Schschekun überzeugt.
Die ukrainische Armee habe mindestens sechs Monate lang eine Reihe von Spezialoperationen durchgeführt, bevor der Schlag gegen das Hauptquartier der Schwarzmeerflotte habe gelingen können. Unter anderem seien die Bojko-Bohrtürme im Schwarzen Meer eingenommen und ein russisches Flugabwehrsystem in Tarchankut zerstört worden. "Die ukrainische Armee hat das nicht einfach mal so erledigt. Das war die harte Arbeit von Profis", so Schschekun.
Putin klammert sich an die Krim
Kiew bestätigt solche Angriffe - wenn überhaupt - oft nur indirekt. Doch für Militärbeobachter im Land steht fest: Die Drohnen und Raketen gegen die russische Flugabwehr sowie Angriffe auf Brücken und militärische Einrichtungen wie Flughäfen, Munitionsdepots oder Fuhrparks sollen die Nachschub- und Versorgungswege der Besatzer unterbrechen. Die russische Armee auf der Krim soll in Bedrängnis gebracht werden.
Vor der russischen Invasion im Februar 2022 hielten nur vier Prozent eine Rückeroberung der Krim überhaupt für möglich. Das hat sich geändert. Laut Umfragen des Unternehmens "Active Group" in ukrainisch kontrollierten Gebieten konnten sich Anfang März fast 55 Prozent der Befragten wieder vorstellen, dass die Krim in naher Zukunft zurückerobert werden könnte - allerdings hielten fast alle schwere Kämpfe für unvermeidbar.
Die Kiewer Geschichtslehrerin Nadiya Chervinska sagte, nur der russische Präsident Wladimir Putin könne über einen möglichen Truppenabzug entscheiden. Für Putin ist die Krim geradezu heiliges Territorium. Würde sie geräumt, würde seine gesamte imperiale Struktur einfach zusammenbrechen. Er werde also bis zuletzt daran festhalten - denn das bedeute sein politisches und physisches Überleben.
Von Russland gefoltert
Auch für den Journalisten und intensiven Krimbeobachter Schschekun ist eine militärische Rückeroberung der besetzten Krim wahrscheinlicher geworden. Der 50-Jährige ist im sogenannten "Nationalrat der Ukrainer der Krim" aktiv, dessen Ziel eine demokratische ukrainische Krim ist.
Er selbst musste seinen Wohnort Bachtschyssarai nahe Sewastopol 2014 verlassen, da er gegen die Annexion durch Russland Widerstand geleistet hatte. Nach russischer Gefangenschaft und Folter - unter anderem durch Elektroschocks - warnte er seine Landsleute schon vor Jahren vor einer russischen Großinvasion, auf die sich die Ukraine vorbereiten solle.
Die Folter ist ihm bis heute im Gedächtnis: "Als sie mir nach dem Verhör meine Sachen gaben, bat ich um ein Kreuz, weil sie uns die Kreuze abgenommen hatten. Einer von ihnen zischte mir ins Ohr: 'Wir geben dir das Kreuz nicht einfach so, sondern können gegen dein Ohr tauschen'", erzählt Schschekun. Er habe dazu geschwiegen, sagt der Journalist. Dann sei einem seiner Mitgefangenen das Ohr abgeschnitten worden.