Nach Einigung zu Nordirland Viel Raum für Fehlinterpretationen
Der britische Premier Sunak verkauft die Einigung mit der EU in Sachen Nordirland-Protokoll als großen Erfolg. Entscheidende Aspekte der Vereinbarung werden aber ganz unterschiedlich interpretiert.
Die Einigung mit der EU im Streit um das Nordirland-Protokoll ist für den britischen Premier Rishi Sunak ein großer Erfolg. Er hat geschafft, was seine Amtsvorgänger Boris Johnson und Liz Truss nicht vermochten: Er hat in Verhandlungen Nachbesserungen bei dem ungeliebten Protokoll erzielt, das seit dem Brexit den Handel zwischen Großbritannien und Nordirland erschwert hat und innenpolitisch zur Belastung geworden ist.
Sunak wird nun als derjenige gefeiert, der den Brexit endgültig umgesetzt hat. Der Premier selbst hat die neue Vereinbarung mit der EU, das sogenannte "Windsor Framework", am Montag vollmundig angepriesen.
Ein Kompromiss, der die Unterschrift der EU trägt
Im Unterhaus betonte er vor den Abgeordneten, dass das Königreich mit dieser Vereinbarung tatsächlich die Kontrolle zurückgewonnen habe - eine Formulierung in Anspielung auf den Wahlkampfslogan "Take back control", mit dem der Brexit einst beworben worden war. Auch verkündete Sunak, dass es dank der jetzigen Vereinbarung nicht mehr das Gefühl einer Grenze in der Irischen See gebe.
Seit Montag beugen sich nun allerdings Fachleute und Juristen über den Text, und damit wird zunehmend klar, dass die Wirklichkeit facettenreicher ist, als Sunak es dargestellt hat. Die Vereinbarung ist ein Kompromiss, der erwartungsgemäß auch die Handschrift der EU trägt. Auffällig ist, dass entscheidende Aspekte der Vereinbarung derzeit recht unterschiedlich interpretiert werden.
Was über das "Windsor Framework" bekannt ist
Um den Handel zwischen Großbritannien und Nordirland zu erleichtern, soll es bei der Abfertigung der Warentransporte künftig "green lanes" und "red lanes" geben, "grüne und rote Fahrspuren". Transporte, die über Nordirland in die Republik Irland gehen und damit in den EU-Markt, unterliegen weiterhin allen bestehenden Zoll- und Kontrollbestimmungen, nehmen also die "red lane". Für Warentransporte, die in Nordirland verbleiben, also die "green lane" nehmen, gibt es dagegen erhebliche Erleichterungen, sofern die Händler als "trusted trader", also als vertrauenswürdige Händler registriert sind.
Dass der Eindruck einer Grenze in der Irischen See damit verschwinden wird, wie Premier Sunak suggeriert, stimmt allerdings nicht ganz. Denn auch für die "green lane" werden weiterhin Zolldeklarationen benötigt, auch wird es noch Kontrollen geben - beides allerdings in deutlich geringerem Umfang als bisher. Die EU erhält im Gegenzug Zugriff auf IT-Systeme, mit denen sich der Warenverkehr kontrollieren lässt. Verweigert Großbritannien diesen Zugriff, kann die EU die "green lanes" aufheben.
Verbesserungen soll es auch beim Angebot in Nordirland geben. Bisher durften nur Lebensmittel und Medikamente nach Nordirland gebracht oder dort produziert und verkauft werden, die EU-Standards genügen. Künftig soll die nordirische Bevölkerung die gleichen Produkte wie Briten in anderen Landesteilen erhalten können. Damit wird unter anderem der Verkauf von Medikamenten erlaubt, die zwar von der britischen, nicht aber von der EU-Arzneimittelbehörde zugelassen wurden.
Auch soll künftig etwa der Handel mit Saatkartoffeln und Frischfleischprodukten möglich sein. Der sogenannte "Würstchenkrieg" gilt damit als beendet. Einige Lebensmittelprodukte müssen allerdings mit einem Etikett versehen werden, dass sie nicht für die EU bestimmt sind. Erleichterungen soll es zudem beim Paketversand für Privathaushalte und Unternehmen geben, und wer sein Haustier nach Nordirland mitnehmen will, benötigt für das Tier künftig keine speziellen Impfungen und Zertifikate mehr, sofern es einen Mikrochip trägt.
Fehlinterpretationen und offene Fragen
Für die Brexit-Hardliner und die DUP - die Democratic Unionist Party, die in Nordirland seit Monaten die Bildung einer Regionalregierung blockiert - ist von entscheidender Bedeutung, ob und inwiefern Nordirland weiterhin dem "EU-Diktat" unterworfen ist. Die DUP beklagt ein Demokratiedefizit, weil EU-Gesetze in Nordirland zwar Gültigkeit besitzen, Nordirland aber kein Mitspracherecht hat.
Das soll sich nun mit der sogenannten "Stormont Brake" ändern. Demnach kann das Regionalparlament "Stormont" in Belfast EU-Neuregelungen ausbremsen, wenn diese gravierende Auswirkungen auf das Alltagsleben der Nordiren haben. Die britische Regierung könnte daraufhin ein Veto einlegen, und ein "Joint Committee" - ein Gremium, zusammengesetzt aus Vertretern Großbritanniens und der EU - müsste dann eine Lösung erarbeiten.
Bei der "Stormont Brake" ist die Lesart aber unterschiedlich. Premier Sunak zufolge stellt sie die Souveränität der Bevölkerung und der Institutionen in Nordirland wieder her. Mitunter wird der Mechanismus gefeiert, als bedeute er ein grundsätzliches Mitspracherecht Nordirlands. Auf EU-Seite will man ihn dagegen offenbar eher als Notlösung für Ausnahmefälle verstanden wissen.
Klärungsbedarf besteht auch im Hinblick darauf, welche Rolle dem Europäischen Gerichtshof künftig zukommt. Auf britischer Seite wird betont, dass die Zuständigkeit des Gerichtshofs für Nordirland stark beschnitten wurde. 1700 Seiten EU-Gesetzgebung zu Mehrwertsteuer, Medikamenten und Lebensmittelsicherheit seien gestrichen worden, heißt es, wodurch auch die Zuständigkeit des Gerichtshofs in diesen Bereichen entfalle. Durch die neue Vereinbarung fänden künftig nicht einmal mehr drei Prozent der EU-Regularien in Nordirland Anwendung. An diese Passage knüpfen sich im Moment allerdings noch viele offene Fragen.
Wie es weitergeht
Das "Windsor Framework" wird derzeit von verschiedenen Parteien juristisch geprüft. Premier Sunak hat eine Abstimmung im Unterhaus über die Vereinbarung angekündigt, den Zeitpunkt dafür aber offengelassen. Auch ist bisher nicht bekannt, ob es sich bei einem Parlamentsvotum lediglich um eine politische Zustimmung handeln würde, oder ob Gesetzesänderungen nötig sein werden.
Die notwendige Mehrheit im Unterhaus hätte Premier Sunak sicher, da die oppositionelle Labourpartei bereits angekündigt hat, für die Vereinbarung zu stimmen. Allerdings würde es Sunaks Position schwächen, mit seiner konservativen Partei keine eigene Mehrheit zustande zu bringen.
Im Augenblick wartet das Königreich vor allem auf die Reaktion der nordirischen DUP. Die Hoffnung ist, dass sie die Vereinbarung akzeptiert und sich zur Regierungsbildung bereiterklärt, die sie bisher mit Verweis auf das Nordirland-Protokoll verweigert hat.
Im besten Fall könnte Nordirland damit in näherer Zukunft wieder eine Regionalregierung bekommen. Unklar ist allerdings, wie lange die DUP das "Windsor Framework" prüfen und wann sie ihre Entscheidung bekanntgeben will.