Polnische EU-Abgeordnete "80 Prozent wollen in der EU bleiben"
Die polnische EU-Abgeordnete Thun hatte sich für den Beitritt ihres Landes zur Union eingesetzt - und ist über das Urteil des Verfassungsgerichts entsetzt. Wie auch Ex-Ratspräsident Tusk ruft sie zu Protesten auf.
Die polnische Christdemokratin Roza Thun äußert massive Kritik an der Regierung ihres Landes und dem Urteil des Verfassungsgerichts, das Teile des EU-Rechts für unvereinbar mit der Landesverfassung hat.
Was die polnische Regierung macht, falle auf alle Polen zurück, auch jene, die aufgrund der Entscheidung extrem besorgt und nicht damit einverstanden seien, sagte die EU-Abgeordnete in den tagesthemen. Das Urteil des Verfassungsgerichts sei eine politische Entscheidung und werde politische Folgen haben.
Die Begründung der Entscheidung, Polen sei durch das EU-Recht nicht mehr so souverän, lässt Thun nicht gelten: "Jede EU-Nation, sogar Deutschland, sei, wenn man auf den Globus schaue, ein kleines Land. Ohne die EU sei keines der Länder wirklich souverän, weil man nur zusammen etwas in der Welt bedeute und so mitbestimmen könne. "80 Prozent der Polen wollen in der EU bleiben und sind demokratisch orientiert", betonte Thun. Sie hoffe, dass die Entscheider der EU auf ihrer Seite stehen werden. Am Wochenende seien in vielen Städten Proteste geplant: "Die Leute sind extrem moblisiert."
Frankreich und Deutschland fordern Einhaltung der EU-Regeln
Am Abend forderten die Außenminister von Frankreich und Deutschland Polen in einem gemeinsamen Statement zur Einhaltung der Regeln auf. Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) und sein französischer Amtskollege Jean-Yves Le Drian erklärten: "Dass die Mitgliedschaft zur EU mit der vollständigen und uneingeschränkten Zugehörigkeit zu gemeinsamen Werten und Regeln einhergeht."
Der Respekt und die Einhaltung für ebendiese müsse von jedem Mitgliedsstaat erbracht werden, das gelte auch für Polen. "Das bedeutet nicht nur eine moralische Verpflichtung. Das bedeutet auch eine juristische Verpflichtung", heißt es in dem Statement weiter, welches das Auswärtige Amt auf Twitter veröffentlichte.
Ehemaliger EU-Ratspräsident ruft zu Protesten auf
Der ehemalige EU-Ratspräsident Donald Tusk will das Urteil ebenfalls nicht hinnehmen. "Ich rufe alle, die ein europäisches Polen verteidigen wollen, dazu auf, am Sonntag um 18 Uhr auf den Schlossplatz in Warschau zu kommen", schrieb er auf Twitter. "Nur gemeinsam können wir sie stoppen." Tusk ist kommissarischer Vorsitzender von Polens größter Oppositionspartei, der liberalkonservativen Bürgerplattform.
"Gefahr eines Austritts"
In Brüssel und in mehreren EU-Staaten stieß die Entscheidung des höchsten polnischen Gerichts auf ein negatives Echo. Die EU-Kommission reagierte mit Sorge auf den Vorgang. Man werde "alle Mittel" ausschöpfen, damit das EU-Recht in Polen gewahrt bleibe, erklärte EU-Justizkommissar Didier Reynders. Das Prinzip, wonach EU-Recht Vorrang vor nationalem Recht habe, sowie der bindende Charakter von Entscheidungen der EU-Justiz seien zentral für den Staatenbund.
"Es besteht de facto die Gefahr eines Austritts aus der Europäischen Union", sagte Frankreichs Europaminister Clement Beaune dem Sender BFM TV. Auch wenn er sich nicht wünsche, dass Polen die EU verlasse, fügte er hinzu. Wirtschaftssanktionen seien allerdings eine Option, um zu reagieren. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn sagte, die polnische Regierung spiele mit dem Feuer.
Die europapolitische Sprecherin der Grünen in Deutschland, Franziska Brantner, forderte Konsequenzen nach dem Urteil. "Jetzt ist die EU-Kommission am Zug und muss sofort klare und eindeutige Konsequenzen ziehen, um die Rechtseinheit der EU zu sichern. Dafür braucht sie die volle Unterstützung Deutschlands. Die Zeit zu beschwichtigen, ist vorbei", sagte sie der Nachrichtenagentur Reuters.
Maas ruft Polen zu Einhaltung von EU-Regeln auf
Bundesaußenminister Heiko Maas forderte Polen zur Einhaltung von EU-Recht auf. "Wenn ein Land sich politisch dafür entscheidet, Teil der EU zu sein, muss es auch dafür Sorge tragen, die vereinbarten Regeln voll und ganz umzusetzen", sagte der SPD-Politiker den Zeitungen der "Funke Mediengruppe". "Mitglied in der Europäischen Union zu sein, bedeutet, dass wir gemeinsame Werte verfolgen, von einem starken gemeinsamen Binnenmarkt profitieren und mit einer Stimme sprechen."
Indirekt drohte er mit Konsequenzen, wenn dies nicht geschehe. "Es bedeutet aber auch, dass wir uns an gemeinsame Regeln halten, die das Fundament der Europäischen Union bilden - mit allen Konsequenzen", sagte Maas. Zugleich sagte er der Europäischen Kommission volle Unterstützung zu. Die Bundesregierung unterstütze die EU-Kommission, "dem europäischen Recht überall in der EU Geltung zu verschaffen", so Maas.
Urteil bedeutet juristisches Neuland
Polens Verfassungsgericht hatte gestern geurteilt, dass zentrale Elemente der Europäischen Verträge unvereinbar mit der polnischen Verfassung seien. Das Gericht unterstrich, dass es nicht nur das Recht habe, die Verfassungsmäßigkeit des EU-Rechts zu überprüfen, sondern auch die Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH). EU-Recht stehe nicht immer über nationalem Recht, und mit ihrem Vorgehen gegen Warschau überschritten die EU-Institutionen ihre Kompetenzen, sagte die vorsitzende Richterin Julia Przylebska.
Sie führte in dem Verfahren an, dass auch Verfassungsgerichte anderer Länder bereits Kompetenzen des Europäischen Gerichtshofs in Frage gestellt hätten: Das Bundesverfassungsgericht etwa sicherte sich für den Notfall ein Letztentscheidungsrecht. Gleich samt und sonders Grundregeln der Union im Zweifel für nachrangig zu erklären, bedeutet allerdings juristisches Neuland.
Verfassungsgericht unter Verdacht
Das polnische Verfassungsgericht selbst steht seit einem umstrittenen Umbau unter dem Verdacht der Befangenheit. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte äußerte unlängst sogar in einem Urteil Zweifel, ob das Verfassungsgericht frei und fair urteilen kann; es sei teilweise illegal zusammengesetzt.
Polens nationalkonservative PiS-Regierung baut das Justizwesen seit Jahren um. Kritiker werfen ihr vor, Richter unter Druck zu setzen. Die EU-Kommission hat wegen der Reformen bereits mehrere Vertragsverletzungsverfahren gegen Warschau eröffnet und Klagen beim EuGH eingereicht. Im Raum stehen auch Strafzahlungen und das Zurückhalten der Auszahlung von EU-Mitteln an Polen.
Mit Informationen von Jan Pallokat, ARD-Studio Warschau