Prozess nach Mord an Samuel Paty "Wie konnten sie etwas so Fürchterliches tun?"
Drei Jahre nach dem Mord am Lehrer Samuel Paty hat der Prozess gegen sechs Jugendliche in Paris begonnen. Sie sollen dem islamistisch motivierten Täter geholfen haben - gegen Bezahlung. Die Frage nach dem "Warum" bleibt.
Die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen, Mundschutz, Sonnenbrille - die sechs Angeklagten wollen nicht erkannt werden, als sie das Pariser Jugendgericht betreten. Dort müssen sie sich für ihr Verhalten im Oktober 2020 verantworten, als sie zwischen 13 und 15 Jahre alt waren. In Frankreich gelten sie damit als strafmündig.
Im Gerichtssaal treffen die Jugendlichen das erste Mal auf die Angehörigen von Samuel Paty. Dies sei ein schwerer und wichtiger Moment für seinen Mandanten, erklärt Verteidiger Antoine Ory. Er sei von Schuldgefühlen zerfressen. "Er fürchtet das Zusammentreffen mit der Familie von Samuel Paty", sagt der Anwalt. "Aber er wird dem Wunsch der Familie nachkommen und sich äußern, sein Handeln so gut er kann erklären, so wie er es auch während der Ermittlungen immer getan hat."
Angeklagte haben neue Identitäten angenommen
Alle Angeklagten sind weggezogen aus Conflans-Sainte-Honorine. Sie leben heute mit einer anderen Identität in Orten, wo niemand ihre Vergangenheit kennt. Ihre neuen Mitschüler wissen nicht, was sie gemacht haben.
"Manchmal wünscht sich mein Mandant, der Held gewesen zu sein, der sich ganz alleine dem Terroristen entgegenstellt", sagt Dilan Slama, ein weiterer Verteidiger. "Aber was konnte er schon von den Absichten des Attentäters wissen?"
Den fünf männlichen Angeklagten wird die Vereinigung zur Vorbereitung von Gewalttaten vorgeworfen. Sie sollen dem ortsfremden Attentäter genaue Beschreibungen des Lehrers geliefert haben - und das gegen Bezahlung. 300 Euro sollen sie erhalten haben. Es heißt, der Attentäter habe sie glauben lassen, er wolle Paty "nur" zu einer Entschuldigung zwingen und ihn dabei filmen.
"Samuel Paty hätte gerettet werden können"
"Die Jugendlichen müssen erklären, warum sie niemanden alarmiert haben", sagt Luis Cailliez, ein Anwalt der Familie Paty.
Zwei Stunden lang habe sich der Attentäter vor der Schule befunden. "Samuel Paty hätte gerettet werden können", betont Cailliez. "Wenn sie nur jemanden alarmiert und gesagt hätten, dass sich da einer herumtreibt."
Mädchen behauptete, Paty diskriminiere Muslime
Das einzige Mädchen, das sich vor Gericht verantworten muss, ist wegen Verleumdung angeklagt. Sie hatte gegenüber ihrem Vater behauptet, Paty sei islamfeindlich und diskriminiere Muslime - eine infame und folgenschwere Lüge. Der Geschichtslehrer hatte im Unterricht zum Thema Meinungsfreiheit Karikaturen des Propheten Mohammed gezeigt.
Aufgrund der Aussage seiner Tochter rief der Vater im Netz dazu auf, den Lehrer zu bestrafen. Er trat in Kontakt mit einem Islamisten, der daraufhin ein Hassvideo verbreitete. Und dieses wiederum rief den Attentäter auf den Plan.
Die Lehrer an Patys Collège sind bis heute fassungslos darüber, was ihre Schüler getan haben. Eine Kollegin fragt anonym im Radiosender France Info: "Warum haben sie Geld angenommen? Warum haben sie einem Fremden ihren eigenen Lehrer ausgeliefert? Wie konnten sie etwas so Fürchterliches tun?"
"Was Samuel passiert ist, kann uns auch passieren"
Einige der Kollegen Patys haben beantragt, als Nebenkläger zugelassen zu werden. Sie wollen Antworten auf die vielen quälenden Fragen finden. Auch ihr Leben ist nicht mehr dasselbe. "In uns hat sich eine Art Misstrauen festgesetzt", erzählt einer der ehemaligen Kollegen Patys. "Wir sind immer zurückhaltend. Wir wissen, was Samuel passiert ist, kann uns auch passieren."
Erst vor wenigen Wochen, am 13. Oktober, wurde erneut ein Lehrer von einem Islamisten erstochen. Viele Lehrer seien heute verunsichert, berichtet eine frühere Kollegin Patys.
"Ich bin jetzt sensibler bei einigen Unterrichtsthemen - zum Beispiel bei Diskriminierung, Sexismus, Laizität. Ich bin immer auf der Hut, als gingen sofort die Alarmglocken in mir an." Das bedeute aber nicht, dass sie diese Themen nun ausspare. "Denn das würde ja bedeuten, dass der Terrorismus gewonnen hat."
Das Urteil gegen die sechs Jugendlichen wird am 8. Dezember erwartet. Das Strafmaß sieht bis zu zweieinhalb Jahre Gefängnis vor.