Putins Rede zum 9. Mai "Interessant, was er nicht gesagt hat"
Putins Rede zum 9. Mai sei "bemerkenswert" gewesen, sagt die Russland-Expertin Claudia Major im Interview. Vor allem, weil er vieles nicht gesagt habe, was erwartet worden war. An Deeskalation glaubt sie nicht.
tagesschau: Was sind aus Ihrer Sicht die bemerkenswertesten Punkte dieser Rede von Putin?
Claudia Major: Ich finde bemerkenswert, was er gesagt hat. Er hat die klassischen Narrative wiederholt, dass die NATO Russland bedrohen würde, dass sich Russland verteidigen müsste, dass es Kampf gegen ein faschistisches Regime in der Ukraine wäre, also die ganzen Narrative, die wir bislang gesehen haben. Interessant finde ich aber auch, was er nicht gesagt hat. Und viele von den Sorgen, die in den letzten Wochen aufgekommen sind, hat er nicht angesprochen. Er hat keine Generalmobilmachung verkündet. Es gab auch kein weiteres nukleares Säbelrasseln. Es gab auch keinerlei Hinweise, dass er historisch eskaliert und jetzt von einem großen Krieg spricht. Das heißt: Alles in allem war es eine relativ konservative Rede, die viel Bekanntes wiederholt hat, aber nicht sehr viel Neues enthielt.
"Russland versucht, Fakten zu schaffen"
tagesschau: Ist die Generalmobilmachung vom Tisch? Oder ist das nur aufgehoben?
Major: Das ist schwer zu sagen. Also wir haben in den letzten Wochen auch gesehen, dass es keine Rede am 9. Mai braucht oder einen besonderen Anlass, um diesen Krieg zu eskalieren. Das heißt: Nur weil das in dieser Rede nicht angekündigt worden ist, ist es nicht vom Tisch. Das kann auch später erfolgen. Es kann auch von anderen russischen Entscheidungsträgern erfolgen. Und wir müssen uns auch klarmachen, dass sich die Situation in der Ukraine ja nicht verbessert hat. Die russischen Truppen stehen im Donbass, sie stehen auf der Landbrücke zur Krim. Sie versuchen, auf dem Boden Fakten zu schaffen, indem der Rubel eingeführt wird, indem Referenden vorbereitet werden. Die Situation auf dem Boden ist deshalb nicht besser geworden, nur weil die Rede relativ konservativ war.
Das langfristige Ziel: eine Annexion
tagesschau: Im Donbass erreichte die russische Armee zuletzt nur minimale Geländegewinne. Es wird dort ein zermürbender Stellungskrieg befürchtet. Was lesen Sie zwischen den Zeilen in der Rede von Putin? Wie wird der Konflikt weitergehen?
Major: Wir haben im ganzen Krieg schon gemerkt, dass es schwer vorherzusagen ist, wie es weitergehen wird. Wir sehen in der Tat, dass Russland keine großen Fortschritte macht, dass im Gegenteil die Ukraine Landgewinne macht. Andererseits müssen wir auch anerkennen, dass es eine enorm große militärische Herausforderung ist, die Gebiete, die Russland seit dem 24.2. besetzt hat, zurückzuerobern. Das ist militärisch noch mal eine viel größere Aufgabe. Und dazu kommt, dass Russland versucht, in den Gebieten, die es jetzt besetzt hat, Fakten zu schaffen, dass beispielsweise der Rubel eingeführt wird, dass aber auch das ukrainische Fernsehen abgeschaltet wird, dass nur noch Russisch gesprochen wird. Und dahinter steht die Botschaft: "Wir sind gekommen, um zu bleiben", also eine langfristige Annexion und de facto eine Übernahme.
"Versuch, einen gemeinsamen historischen Moment der Größe zu schaffen"
tagesschau: Wir kennen Militärparaden in Moskau schon vom Kriegsgedenken der vergangenen Jahre. Anders als sonst waren diesmal keine ausländischen Staatsgäste dabei. Wird darin schon die Isolation Russlands deutlich?
Major: Die Isolation haben wir schon in den letzten Wochen gesehen, aufgrund der Sanktionen und aufgrund der internationalen Sonderstellung, die Russland aufgrund der doch sehr starken Verurteilung hatte. Was ich interessant finde bei der Parade, ist wirklich der Brückenschlag, den Putin versucht hat: Zu sagen, wofür unsere oder die russischen Vorfahren gekämpft haben im Großen Vaterländischen Krieg gegen den Faschismus gegen Nazi-Deutschland, das ist de facto die gleiche Aufgabe, die die Soldaten in der Ukraine wahrnehmen. Er versuchte, eine historische Linie zu etablieren. Diese Paraden sind immer militärischer und martialischer geworden, seit Putin an der Macht ist. Das war früher nicht so. Also es ist der Versuch, dort einen gemeinsamen historischen Moment der Größe zu schaffen, die gemeinsame Erinnerung an den Sieg über den Hitler-Faschismus 1945.
Botschaft nach innen und nach außen
tagesschau: Wie wirkt diese rhetorische Zuspitzung denn in die russische Gesellschaft hinein?
Major: Diese Paraden und die Rede haben zwei Adressaten: einmal in die russische Gesellschaft, das heißt Zusammenhalt schaffen, auch noch mal zu sagen, wie heldenmütig die russischen Soldaten kämpfen würden und auch dort Unterstützung zu generieren und kritische Stimmen wegzudrücken. Die andere Botschaft ist nach außen an die Weltöffentlichkeit. Die Botschaft dahinter ist, dass Russland von seinen Zielen nicht abrückt. Es ist eine gewisse Ironie, dass wir teilweise erleichtert sind, dass keine Generalmobilmachung verkündet wurde, dass es kein weiteres nukleares Säbelrasseln gibt. Aber wir müssen uns auch in Erinnerung rufen, dass Putin mit dieser Rede die Ziele bestätigt hat und den Angriffskrieg noch einmal versucht hat zu begründen und es keinerlei Anzeichen dafür gibt, dass Russland deeskalieren möchte. Bei aller Berührung, dass es keine weitere Eskalation gab: Es gab auch keine Deeskalation. Russland hält an den Zielen fest, die Ukraine kontrollieren zu wollen und die Gebiete halten zu wollen, die es jetzt schon erobert hat.
Die Fragen stellte Kirsten Gerhardt, tagesschau24.