Nach Angriffen auf Kiew Was die "Shahed"-Drohnen ausmacht
Russland greift ukrainische Infrastruktur mit Drohnen iranischer Bauart an. Sie sind vergleichsweise simpel, preisgünstig, können großen Schaden anrichten - doch Experten deuten ihren Einsatz als Zeichen militärischer Schwäche.
Am Montagmorgen kreisten Drohnen über der Hauptstadt Kiew und weiteren Städten der Ukraine, schlugen in Gebäude der kritischen Infrastruktur ein und töteten mehrere Menschen. Den ukrainischen Streitkräften gelang es, etliche Drohnen vom Boden aus abzuschießen. Hinter den Einschlägen steckt ein gezielter Angriff Russlands, bei dem die unbemannten Luftfahrzeuge über bestimmten Zielen zum Absturz gebracht werden, um sie zu zerstören - häufig werden sie deshalb als Kamikaze-Drohnen bezeichnet.
Um welche Drohnen handelt es sich?
Kiews Bürgermeister Vitalij Klitschko veröffentlichte nach dem Angriff ein Foto von Wrackteilen, auf dem die kyrillische Aufschrift "Geran-2" zu lesen ist.
Russischen Quellen zufolge produziert Russland diese Drohnen selbst - in ihrer Bauart sind sie jedoch nahezu identisch mit Drohnen des Typs "Shahed-136" aus iranischer Entwicklung.
"Shahed-136"-Drohnen sind sogennante lauernde Waffen (loitering weapons): Sie werden mit einer Rakete gestartet und kreisen dann mittels Propeller-Antrieb einige Zeit über dem Zielgebiet, bevor sie durch den Operator am Boden auf ihr Ziel gelenkt werden. Sie können keine beweglichen Ziele anfliegen und sind nicht selbst zielsuchend - es handelt sich also nicht um ein sogenanntes intelligentes Waffensystem.
Im Kopf trägt die Drohne eine Sprengladung, die beim Einschlag detoniert. Experten zufolge kann sie bis zu 60 Kilogramm Sprengstoff tragen - der US-Experte Brett Friedmann von der Organisation "The Strategy Bridge" rechnet vor, dass das das Doppelte bis Dreifache eines typischen Artilleriegeschosses ausmacht und die Detonation dementsprechend ein Vielfaches an Schaden verursachen könne.
Wie sind die Drohnen in russischen Besitz gelangt?
Schon vor dem Angriff vom Montag hatten die ukrainischen Streitkräfte mehrfach den Abschuss von Drohnen des Typs "Shahed-136" gemeldet.
Der Sprecher des iranischen Außenministeriums, Nasser Kanaani, sagte bei einer Pressekonferenz, der Iran habe "keiner Seite" Waffen geliefert - Berichte über iranische Drohnen-Lieferungen an Russland seien "politisch motiviert" und würden von westlichen Quellen verbreitet.
In der Tat schreiben der britische Geheimdienst und die US-Denkfabrik "Institute for The Study of War" in ihrem täglichen Update zum Krieg in der Ukraine von iranischen Shahed-136-Drohnen, die bei den Attacken im Einsatz gewesen seien.
Von iranischen Waffenlieferungen an Russland spricht die US-Regierung seit Sommer: Die iranische Regierung bereite die Lieferung "mehrerer Hundert unbemannter Luftfahrzeuge" vor, teilte der nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan im Juli auf einer Pressekonferenz mit. CNN berichtete wenig später, eine russische Delegation sei bereits auf Einkaufstour im Iran gewesen und präsentierte Satellitenbilder, die den Besuch eines Flugplatzes belegen sollen. Die Lieferung soll weiteren Berichten zufolge im August erfolgt sein - im September entzog die Ukraine als Reaktion dem iranischen Botschafter in Kiew die Akkreditierung.
Die "Washington Post" berichtete jüngst, der Iran plane weitere Waffenlieferungen an Russland, unter anderem weitere Shahed-136-Drohnen sowie Drohnen des Typs "Mohajer-6", die auch Raketen oder Bomben tragen kann, und "Arash-2", der iranische Quellen eine Reichweite von bis zu 2000 Kilometern zuschreiben.
Denkbar ist auch, dass Russland unter Umgehung von Sanktionen aus dem Iran Bauteile für Drohnen bezieht, die in Russland montiert und dann mit dem russischen Produktnamen "Geran-2" versehen eingesetzt werden - der Chefredakteur des ukrainischen Infoportals "Defense Express", Oleg Katkow, sagte in einem Interview, einige Bestandteile der Drohne seien auf dem freien Markt erhältlich: Sowohl der Steuerungssensor des Navigationssystems als auch der Motor seien der chinesischen Shoppingplattform "auf AliExpress" zu kaufen.
Einem Bericht der "New York Times" zufolge hat der Iran Ausbilder aus den Reihen seiner Revolutionsgarden auf die von Russland besetzte ukrainische Halbinsel Krim entsandt, um bei der Beseitigung von Problemen beim Einsatz der Drohnen zu helfen - als Quelle nennt die investigative Zeitung frühere und aktuelle US-Geheimdienstmitarbeiter.
Warum setzt Russland die Drohnen ein?
Drohnen des Bautyps "Shahed-136" sind verhältnismäßig preisgünstig: Samuel Cranny-Evans vom britischen Thinktank "Royal United Services Institute" schätzt in der spanischen Zeitung "El País" den Kaufpreis auf etwa 20.000 US-Dollar - eine türkische "Bayraktar TB2"-Drohne, wie die Ukraine sie einsetzt, kostet etwa das Hundertfache. Zudem kann sie ohne Personalverlust in den eigenen Reihen eingesetzt werden: Beobachter gehen davon aus, dass russische Kräfte die Drohnen von den besetzten Gebieten im Süden der Ukraine aus gesteuert haben.
Das macht sie für Russland zum derzeitigen Mittel der Wahl gegen die Ukraine, denn selbst russische Militärblogger berichten inzwischen von Engpässen im russischen Kriegsinventar: "Sowohl qualitative als auch quantitative Indikatoren" zeigten offensichtliche wachsende Probleme im russischen Raketenarsenal, schrieb etwa der Telegramkanal "Atomic Cherry".
Nach klassischen Gesichtspunkten der Kriegsführung ist der militärische Nutzen der Drohnen eher gering - Experten gehen nicht davon aus, dass der Frontverlauf im Süden und Osten der Ukraine mithilfe der Drohnen zugunsten Russlands entscheidend verschoben werden kann.
Eine beträchtliche Wirkung haben sie dennoch: "Solche Angriffe können großen Schaden an ziviler Infrastruktur verursachen und viele Menschen verwunden, ohne dass sie einen bedeutenden militärischen Effekt haben", schreibt das "Institute for The Study of War" in seinem täglichen Bericht. Die Analyse deute darauf hin, dass Russland die Drohnen einsetze, "um die psychologischen Effekte, die damit verbunden sind, zivile Gegenden ins Visier zu nehmen, hervorzurufen - anstatt asymmetrische Ergebnisse herbeizuführen, indem gezielt legitime militärische und an der Frontlinie gelegene Ziele getroffen werden". Es geht demnach also in erster Linie darum, durch zivile Opfer und die Schäden an ziviler Versorgungs-Infrastruktur Angst und Schrecken zu verbreiten.
Wie wirkt ihr Einsatz auf den Kriegsverlauf ein?
Die Drohnenangriffe lenken erneut den Blick auf eine Schwäche der ukrainischen Verteidigung - die Lücken in der Flugabwehr. Ukrainische wie russische Quellen betonen, dass die Drohnen auf dem Radar sehr schwer zu entdecken sind und mithin schwer abgewehrt werden können, bevor sie sich ihrem Ziel nähern. Bilder aus Kiew zeigten, wie ukrainische Einsatzkräfte zum Teil mit dem Gewehr in die Luft schossen, um die Drohnen abzuwehren. Die militärische Führung in Kiew und ihre Unterstützer betonten erneut Forderungen nach westlichen Lieferungen von Flugabwehr-Systemen.
Bislang verfügt sie vor allem über "Javelin"- und "Stinger"-Luftabwehrraketen, die aber mangels Nachtsichtsystems nur bei Tageslicht eingesetzt werden können - der russische Angriff auf Kiew hatte am frühen Morgen begonnen. Schwere Systeme wie das deutsche "IRIS-T" wiederum sind im Einsatz gegen große Luftfahrzeuge zwar effektiv, aber sehr teuer: Dass die ukrainischen Kräfte durch den Beschuss der günstigen Einweg-Drohnen ihre teuren IRIS-T-Munitionsbestände auslaugen, könnte auch ein Bestandteil des russischen Kalküls sein.
Inzwischen könnten in der Ukraine viele Ziele der kritischen Infrastruktur getroffen oder sogar zerstört werden, was sich auf die Versorgungslage im Land auswirkt. Etwa waren nach dem Einschlag ins Kiewer Zentrum des Energiebetreibers Ukrenergo Hunderte Ortschaften ohne Strom.
Die russische Hoffnung ist, die Ukraine durch ein großes Schadensausmaß zu schwächen - durch das resultierende Leid der Zivilbevölkerung, so das Kalkül, könnte die Ukraine zu Zugeständnissen gezwungen sein. Die ukrainische Führung spricht in diesem Zusammenhang von "Terror". Noch ist aus der Ukraine aber sowohl seitens der Regierung als auch der Bevölkerung lediglich Durchhaltewillen und eine Art Trotzhaltung gegenüber dem Angreifer Russland zu vernehmen.