Sprengung des Kachowka-Staudamms "Militärisch kein Wendepunkt"
Die Sprengung des Kachowka-Staudamms im Süden der Ukraine ist aus Sicht des Militärexperten Mölling kein klarer Wendepunkt im Krieg. Vielmehr zeige es, wie blank Russland militärisch dasteht.
tagesschau.de: Herr Mölling, was genau wissen Sie bislang? Welche Seite könnte wie in die Sprengung des Staudamms involviert sein?
Christian Mölling: Wir wissen zum jetzigen Zeitpunkt nur, dass der Staudamm kaputt ist. Dann beginnt schon der Informationskrieg. Dabei muss man mit Plausibilitäten arbeiten. Zunächst besteht die Frage, hat die Ukraine irgendeinen Vorteil durch diese Sprengung des Staudamms? Ich kann den nicht erkennen.
Russland hat insofern einen kurzfristigen Vorteil, als die offensichtlich beginnende Offensive der Ukrainer dadurch verlangsamt wird und man Pläne ändern muss. Denn durch die Zerstörung des Staudamms gibt es auf ukrainischer Seite jetzt die Notwendigkeit, sich in der Region flussabwärts um die Menschen zu kümmern und die Leute zu evakuieren.
Christian Mölling ist stellvertretender Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Er ist Experte für Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU, NATO und Deutschlands.
"Wer dies tut, begeht ein Kriegsverbrechen"
tagesschau.de: Für die Menschen in der Region bedeutet es weiteres Leid, sie verlieren ihr Hab und Gut, auch wenn sie mit dem Leben davonkommen. Können Sie schon Näheres zum Ausmaß sagen?
Mölling: Wie viele Menschen dadurch getötet oder verletzt werden, weil sie von der Flut mitgerissen werden, hängt davon ab, wie schnell die Alarmierung und Evakuierung stattfinden kann. In den letzten Wochen und Monaten wurde immer wieder davon gesprochen, dass dieser Fall eintreten könnte. Möglicherweise gab es auf Seiten der Behörden dafür auch Pläne.
Das ändert aber nichts daran, dass sie trotzdem Verluste haben werden, dass da Menschen und vor allen Dingen Zivilisten ein weiteres Mal Opfer eines Kriegsverbrechens werden. Denn auch das muss man ganz klar sagen, Staudämme dürfen nicht zerstört werden.
Wer dies tut, begeht ein Kriegsverbrechen. Also die Liste für Den Haag wird einfach länger.
tagesschau.de: Welchen konkreten Nutzen hätten die russischen Streitkräfte von einer solchen Sprengung in der aktuellen Phase des Kriegs?
Mölling: Es könnte dabei helfen, dass kurzfristig russische Kräfte aus dem östlichen Teil der Ukraine, der ja noch besetzt ist durch Russland, verlagert werden können, sodass man die Truppenstärke dort ein bisschen ausdünnen und so andere Teile der Front verstärken kann. Das ist möglicherweise zum jetzigen Zeitpunkt interessant für die Russen, weil die Ukrainer offensichtlich doch stärker im Donbass aktiv werden.
Auch wenn wir nicht wissen, ob das Teil der Offensive ist, steht fest, diese Sprengung bringt die Ukrainer für eine kurze Zeit aus dem Tritt, und sie müssen ihre Pläne anpassen. Was das für die Zeit in zwei oder drei oder vier Wochen bedeutet, ist noch nicht abzusehen.
"Die Ukraine kann die Offensive trotzdem weiterführen"
tagesschau.de: Welche Folgen vermuten Sie?
Mölling: Entscheidend wird sein, was die Wassermassen für die Region bedeuten. Wird sie am Ende besser passierbar oder schlechter passierbar sein? Ich würde diese Sprengung aber auch nicht als einen extremen Wendepunkt in diesem Krieg sehen. Das ist es, glaube ich, nicht.
Auch, weil die Ukraine ja trotzdem ihre Operationen, ihre Offensive fortführen wird. Die russischen Streitkräfte gewinnen vielleicht für einen gewissen Moment Zeit. Ich sehe aber nicht, dass das ihnen wirklich hilft.
Im Gegenteil, wir haben ja gerade eine Situation, wo in Bachmut durch den Abzug der Wagner-Truppen, die russische Verteidigung zusätzlich geschwächt wird. Möglicherweise also ein Moment der Schwäche, den Russland durch diese von der Größe und Skala her völlig unangemessene Sprengung dieses Damms auszugleichen versucht.
Der 1956 gebaute Damm liegt direkt bei Nowa Kachowka, die Stadt Kachowka befindet sich ein Stück weiter nordöstlich vom Damm entfernt. Das Bauwerk war 30 Meter hoch und mehr als drei Kilometer lang. Er staut den Dnipro kurz vor der Mündung ins Schwarze Meer zum riesigen Kachowkaer Stausee, der wegen seiner Größe selbst wie ein Meer wirkt. Vom Damm bis Cherson sind es rund 85 Kilometer flussabwärts, bis zum Standort des AKW Saporischschja in dem Ort Enerhodar etwa 150 Kilometer flussaufwärts. Der See liegt in den Verwaltungsbezirken Dnipropetrowsk, Saporischschja und Cherson.
Quelle: Reuters
"AKW Saporischschja muss weiter gekühlt werden"
tagesschau.de: Aus dem Stausee erhält zudem das AKW Saporischschja sein Kühlwasser. Zwar besteht laut Behörden aktuell keine unmittelbare Gefahr für das AKW aber dennoch blicken viele mit Sorge dorthin. Wie schätzen Sie die Lage ein?
Mölling: Wenn das Kernkraftwerk durch eine so bewusste Aktion in Mitleidenschaft gezogen würde, dann müsste Russland eine weitere Isolierung fürchten. Das würde ja andere Akteure unter Druck setzen. Wer mit Nuklearmaterial zündelt, der kann nicht ungeschoren davonkommen. Das haben im Grunde genommen alle klar gemacht.
Im Moment scheint die Situation so, dass es keine unmittelbare Gefahr für das Kernkraftwerk gibt. Es ist heruntergefahren. Aber das heißt nicht, dass es nicht noch weiter gekühlt werden muss. Die Reaktoren und die Brennstäbe erzeugen weiterhin ein hohes Maß an Hitze, sie müssen also weiter gekühlt werden.
tagesschau.de: Es heißt, dass auch die Wasserversorgung der von Russland rechtswidrig annektierten Halbinsel Krim massiv gestört werden könnte. Wer könnte daran interessiert sein?
Mölling: Niemand. Es wurde, glaube ich, in der Güterabwägung, in der Frage "was ist mir wichtiger?" eine Entscheidung getroffen. Und, sollte Russland diesen Staudamm gesprengt haben, dann hat es sich offensichtlich dafür entschieden, dass die Wasserversorgung auf der Krim weniger wichtig ist als das Aufhalten oder ein Ausbremsen der Offensive.
"Militärisch gesehen Einmal-Effekt"
tagesschau.de: Ist die Sprengung also eine Antwort Russlands auf die begonnene Offensive der ukrainischen Seite? Die ukrainische Seite erklärte, die russischen Streitkräfte hätten den Staudamm "in Panik" gesprengt.
Mölling: Offensichtlich hat Russland nicht mehr viele Handlungsoptionen. Russland ist offensichtlich nicht in der Lage, klassisch militärisch zu eskalieren, da es militärisch ziemlich blank ist. Auf der anderen Seite ist es im Krieg immer so, dass die Akteure versuchen, ihren Gegenüber zum Stolpern zu bringen. Etwa, indem man ein Dilemma erzeugt, das das Gegenüber zwingt, seine eigentlichen Pläne zu verlassen und auf etwas zu reagieren, das nicht ignoriert werden kann.
Militärisch gesehen haben sie einen Einmal-Effekt, der im wahrsten Sinne des Wortes durchrauschen wird. Danach gibt es ein neues Normal, auf das sie sich einstellen können.
Das Gespräch führte Katja Keppner, tagesschau.de