Prozess gegen Sängerin Gülsen Ein Witz und die "Pfeiler der Nation"
Für einen anzüglichen Witz auf der Bühne steht die türkische Sängerin Gülsen vor Gericht: Ihr drohen drei Jahre Haft wegen Volksverhetzung. Nicht nur ihre Fans sehen darin einen Angriff auf die Redefreiheit.
"Er war auf einer Imam-Hatip-Schule, daher kommt seine Perversion", sagte Popsängerin Gülsen Ende April über ein Mitglied ihrer Band bei einem Konzert in Istanbul. Imam Hatip, so heißen staatliche Schulen der Türkei mit muslimischem Schwerpunkt. Viele im Publikum finden Gülsens Bemerkung lustig.
Das Ganze ist fast vergessen, da wird rund vier Monate später ein Video der Szene im Internet plötzlich vielfach geteilt und geklickt. Die Staatsanwaltschaft wird aktiv und wirft Gülsen Volksverhetzung vor. Sie landet im Gefängnis - unter den Augen von Fans, die ihr Mut zurufen wollen.
Ein paar Tage später wird Gülsen in Hausarrest entlassen. Der namhafte Jurist Rezan Epözdemir vermutet, dazu habe Druck aus Teilen der Gesellschaft beigetragen. Inzwischen ist zwar auch der Hausarrest aufgehoben, aber die Vorwürfe gelten weiter. Daher muss sie sich jede Woche auf einer Polizeiwache melden. Ihr drohen bis zu drei Jahre Haft.
Auch Erdogan bezieht sich auf Gülsen
Andere Künstler reagieren entsetzt auf ihren Fall - wie der Popsänger Murat Boz: "Das ist das Schlimmste, was uns Künstlern passieren kann, und dass das in meinem Land geschieht, macht mich noch trauriger", sagt er. "Das hat keiner von uns verdient."
Doch wie groß offenbar die Dimension Gülsens angeblichen Verbrechens für die Regierenden ist, legt eine Äußerung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan nahe. Auch er hat eine Imam-Hatip-Schule besucht.
Wenige Tage nach Gülsens Festnahme sagt er, ohne ihren Namen zu nennen: "Wir werden nicht zulassen, dass die Pfeiler unserer Nation zusammenbrechen - trotz derer, die Geschichte und Moral nicht kennen und die Heiligkeit nicht anerkennen."
"Rede und Kritik unter Kontrolle der Regierung"
Für den Politikwissenschaftler und Kolumnisten des Internetkanals Serbest, Ali Bayramoglu, passt der Kommentar von ganz oben ins Bild: Die Regierung will die öffentliche Meinung beherrschen, meint er. Kritikern werfe man schnell Volksverhetzung vor - oder Beleidigung des Präsidenten.
"Es sind schon fast 7000 Ermittlungsverfahren wegen Präsidentenbeleidigung eingeleitet worden. 1000 Menschen wurden verurteilt", berichtet er. "Mit anderen Worten: In der Türkei stehen Rede und Kritik unter der Kontrolle der Regierung."
Auch die Opposition nimmt den Fall Gülsen zum Anlass, gegen die Regierung zu wettern. Die Vorsitzende der so genannten Guten Partei, Meral Aksener, schreibt auf Instagram, unter dieser Regierung müsse früher oder später jeder damit rechnen, verhaftet zu werden. Daher müsse Erdogan die Wahl im kommenden Jahr verlieren: "Die Justiz funktioniert nicht - es gibt keine Rechtsstaatlichkeit. Ich hoffe, wir werden sie nach den Wahlen gemeinsam aufbauen."
Ein neues Gesetz löst Sorgen aus
Bis dahin könnte es noch zu etlichen weiteren Anklagen ähnlich der gegen Gülsen kommen - auf Grundlage des kürzlich verabschiedeten sogenannten Desinformationsgesetzes. Oppositionelle nennen es Zensurgesetz.
Gülsen hat übrigens schon vor Verabschiedung des Gesetzes um Entschuldigung für ihre Äußerung gebeten. Es sei doch nur ein Witz gewesen. Ob das Gericht ihr glaubt, ist offen. Immerhin: Den früheren Abgeordneten der nationalistischen MHP, Nazif Okumus, hat sie überzeugt: "Es kann doch nur ein Witz sein - vielleicht ein schlechter, aber jeder mit ein bisschen Verstand kann das sehen, unabhängig von seinen politischen Präferenzen."