Ukrainische Soldaten bei Saporischschja Hartes Training für die Gegenoffensive
Wann und wo die ukrainische Gegenoffensive stattfindet, ist strikt geheim. Die Vorbereitungen laufen seit Monaten - auch die Ausbildung der Soldatinnen und Soldaten.
"Seid ihr bereit? Dann los!" In voller Montur, das Gewehr im Anschlag, scharfe Munition und die anderen möglichst im Blick - so bewegt sich eine uniformierte Gruppe der Territorialverteidigung durch ein Waldstück im Gebiet Saporischschja. Sie sollen den dichten grünen Wald sichern und einen feindlichen Schützengraben stürmen, in dem sich Soldaten der anderen Seite verschanzen.
"Entweder weiter oder zurückziehen und neu gruppieren", ruft einer der Ausbilder. Immer wieder kauern die Männer auf dem braunen Waldboden, ducken sich in Büsche oder unter Bäume und geben einander Zeichen. Sie sollen sich nicht länger als drei bis fünf Sekunden bewegen, da ein durchschnittlicher Schütze etwa so lange brauche, um zu treffen. Die russische Seite sei in ihren Stellungen besser vorbereitet als die ukrainischen Soldaten, weil sich deren Soldaten in der Defensive befinden würden, so die Instruktion.
"So viele Leben unserer Soldaten retten wie möglich"
Schließlich gilt das Waldstück als geräumt und unter Kontrolle. Jetzt soll die Angriffsgruppe feindliche Soldaten in dem Unterstand gefangen nehmen oder töten, so der Auftrag. Es ist heiß und einige kommen ziemlich ins Schwitzen. Nach der ersten Runde versammeln sich die Männer um Ausbilder Kostyantin Wassytschynski. Der Hüne mit Schnurrbart ist Offizier der aktiven Reserve und wird sie an diesem Tag immer wieder durch das Waldstück jagen. "Wir wollen so viele Leben unserer Soldaten retten wie möglich. Und deshalb verbessern wir hier ihre Kampffähigkeiten", so der 56-Jährige.
Er sei seit einem Monat in dieser Brigade, und es sei natürlich eine schwierige Aufgabe:
Je mehr sie lernen, je mehr sie hier schwitzen, desto weniger Blut werden unsere Soldaten bei dieser Gegenoffensive vergießen.
Je mehr sie jetzt lernen, desto weniger Blut fließt bei der Gegenoffensive, sagt Ausbilder Wassytschynskyj.
Der vierfache Großvater Wassytschynski hat den Armeedienst vor fast 20 Jahren an den Nagel gehängt. Mit Kriegsbeginn im Donbass 2014 kam er zurück, wurde vor einem Jahr verletzt und dann Ausbilder. "Diese Jungs hier haben wenigstens Kampferfahrung", sagt er, während auf die Männer zeigt, die aus einer Munitionskiste im Gras ihre Gewehre laden.
Den Feind nicht unterschätzen
Auf einer Anhöhe ein Stück weiter blickt ein Gruppe Nationalgardisten prüfend in Richtung Front. Auch Oleh lässt den Blick in die Ebene schweifen. Die russische Seite bombardiere aus der Luft und schieße mit Panzern und Artillerie auch auf die Menschen in den Dörfern nahe der Frontlinie, so der braunhaarige Offizier.
In der Tat kommen zurzeit viele Menschen aus solchen zerstörten Dörfern in die Gebietshauptstadt Saporischschja. Weiter südlich habe die russische Armee mehrere feste Verteidigungslinien aufgebaut, so der junge Offizier. Man solle immer auf das Schlimmste vorbereitet sein, denn die russische Armee sei seit einem Jahr im Kampfeinsatz und habe Erfahrungen sammeln können.
Er könne die Situation im russisch besetzten ukrainischen Gebiet nur von außen einschätzen, eines wisse er aber mit Sicherheit: "Wenn die russischen Soldaten alle Alkoholiker wären oder unfähig zu kämpfen, wie es manche behaupten, dann wäre der Krieg wahrscheinlich schon zu Ende. Man sollte den Feind nie unterschätzen."
Neue Taktiken dank westlicher Waffen
Bei einer Offensive sterben mehr Menschen, als wenn die Linien verteidigt werden, sagt Oleh, doch dank westlicher Waffen seien neue Taktiken möglich und mehr ukrainische Soldaten hätten die Chance, die Gegenoffensive zu überleben.
Oleh hat an der Akademie der Nationalgarde in Charkiw studiert. Zu Beginn der russischen Großinvasion sollte er die Stadt Melitopol im Süden mit verteidigen. Das scheiterte und er kam ins Gebiet Saporischschja. Ständiges Training, gute Waffen und Kampferfahrung seien mit das Wichtigste, das sei beim Kontakt mit der Gegenseite entscheidend.
"Heutzutage ist nicht nur die militärische Ausbildung wichtig, sondern auch die psychologische und moralische Stabilität der Menschen", sagt Oleh. "Oft haben wir aufgrund von Panik oder von Angst vor dem Feind Verluste. Wenn ein Mensch seine Angst nicht überwinden kann, dann kann er nicht denken und kämpfen."
Angst vor russischer Kriegsgefangenschaft
Auch die Angst vor russischer Gefangenschaft geht bei den Vorbereitungen vielen durch den Kopf. Jeder hat sie vor Augen: die schockierenden Videos sadistischer Tötungen ukrainischer Soldaten durch die russische Seite. Kastration, Enthauptung mit einem Messer, willkürliche Erschießung. Oleh kennt Soldaten, die in russischer Kriegsgefangenschaft waren und dort ständig erniedrigt und geschlagen worden seien. Einfach so.
In Gefangenschaft zu geraten ist sehr beängstigend, ich kann nicht einmal sagen, was ich wählen würde, wenn ich die Wahl hätte. Die Gefangenschaft oder den Tod.
Es gibt ukrainische Soldaten, die eine Granate für sich selbst dabei haben, meint der erfahrene Nationalgardist Oleh, der im zivilen Leben Bauarbeiter in Ivano-Frankivsk ist.
Auch ein Teil der Männer, die an diesem Tag an den Vorbereitungen teilnehmen, machen sich darüber Gedanken. "Wir bemühen uns, nicht in Gefangenschaft zu geraten", sagt einer. Und ein anderer fügt hinzu: "Wir tun alles Notwendige, um die Besatzer aus unserem Land zu vertreiben. Etwas anderes wollen wir nicht."
Seit über einem Jahr im Einsatz
Die beiden gehören zu einer Einheit der Territorialverteidigung und kommen aus Ivano-Frankivsk im Westen der Ukraine. Seit über einem Jahr seien sie im Einsatz - ohne Rotation, erzählen sie. An diesem Tag nehmen sie in mehreren Übungen den Unterstand der anderen Seite ein. Die Übung ist erfolgreich: Niemand ist verletzt oder tot.
Doch sie alle wissen, dass dies im Ernstfall anders ausfallen könnte. Einer in ihrer Einheit sei gestorben, ein anderer verwundet worden, erzählt die kleine Gruppe. Im zivilen Leben sind alle Bauarbeiter, sie wollen durchhalten, sagen sie. "Wir glauben an uns selbst und wissen, dass am Ende alles wieder Ukraine ist."