Firmen suchen Personal Der Ukraine fehlen Millionen Arbeitskräfte
Nach Beginn des russischen Großangriffs vor fast drei Jahren brachen Wirtschaft und Arbeitsmarkt in der Ukraine stark ein. Tod, Verletzung oder Flucht führen dazu, dass viele Branchen händeringend Personal suchen.
In der Produktionshalle des Glasunternehmens Biomedsklo in Schytomyr hüpfen lange Fließbänder, bestückt mit Flaschen und Gläser. 60 Prozent davon werden ins Ausland exportiert.
"Wir produzieren sehr hochwertiges Glas", sagt der technische Leiter Oleksander Milevskyj. "Je neutraler und heller die Farbe, desto besser die Qualität."
Der technische Leiter Oleksander Milevskyj ist einer der insgesamt 220 Mitarbeitenden des Glasunternehmens Biomedsklo. Derzeit gebe es zehn offene Stellen.
Spezialisten händeringend gesucht
Milevskyj ist einer von 60 hochqualifizierten Spezialisten der insgesamt 220 Mitarbeitenden. Wichtig sind Ingenieure für Mechanik oder Elektronik, sowie Elektriker oder IT- Programmierer, erzählt Personalchefin Galyna Fesyuk.
Zurzeit gäbe es zehn offene Stellen, gebraucht würden Ingenieure, aber auch Anlagen- und Maschinenführer oder Menschen am Band.
Mobilisierung nach russischem Großangriff
Der russische Großangriff am 24. Februar 2022 war auch für Biomedsklo in vieler Hinsicht eine traumatische Zäsur. 80 Prozent der Beschäftigten sind Männer und von heute auf morgen waren zehn Prozent bei der Armee.
"Von Februar und März 2022 an fehlten zehn Prozent unserer Produktionskraft", so die Personalchefin.
Die Wanne, in der das Glas geschmolzen wird, ist das "Herz" der Produktion. Dem Unternehmen Biomedsklo fehlt es an Fachkräften.
Investitionen trotz russischen Großangriffs
2007 wurde die ukrainische Glasproduktionsfirma vom griechischen Investor Hellenic Glass Industry gekauft. Seit dem russischen Angriffskrieg investierte dieser rund sechs Millionen Euro in Schytomyr.
Ein Zeichen von Vertrauen und Risikobereitschaft. "Wir produzieren keine Massenware, das macht es für uns leichter und der Markt hat uns unterstützt", konstatiert der griechische Werksleiter Ioannis Patrinos.
Auch die Haltung der oft viele Jahre lang Mitarbeitenden sei eine Motivation für den Investor. "Wenn die Leute dich unterstützen, musst du das auch tun."
"Wir verlieren die junge Generation"
Das Glasunternehmen muss auch verkraften, dass Kollegen an der Front getötet werden. "Wir haben zwei verloren", sagt Biomedsklo Werksleiter Ioannis Patrinos und muss schlucken.
Beide seien sehr talentierte Ingenieure gewesen und man unterstütze deren Familien, ergänzt Personalchefin Fesyuk leise. "Leider verlieren wir unsere junge Generation."
Spezialisten für die Glasbranche weiterzubilden dauerte früher bis zu fünf Jahre. Ein Nachteil, der durch den russischen Angriffskrieg überdeutlich wurde. Fesyuk hat das Weitergeben von Wissen und die Ausbildung deswegen standardisiert und so etwas beschleunigt.
"Herausforderung für das ganze Land"
Maksym Scheremet hat ebenfalls Probleme, Arbeitsstellen zu besetzen. Der 42-Jährige ist operativer Direktor bei Epizentr, eine ukrainische Hypermarktkette, in der man von Katzenfutter, Lebensmittel, Pflanzen bis zu Generatoren praktisch alles bekommt.
Nach Corona und im russischen Angriffskrieg müsse der Konzern neue Wege gehen, um Leute zu finden, sagt er. Epizentr wandelt die Ausbildung grundlegend um, entwickelt beispielsweise Programme mit Universitäten, um Studierende für eine Ausbildung zu interessieren.
Doch auch die Konkurrenz sucht Leute, so Maksym Scheremet. "Nicht nur uns fehlt Personal, das ist eine Herausforderung für das ganze Land."
Die Hypermarktkette Epizentr sucht nach Fachkräften. 50 Prozent der wehrpflichtigen Mitarbeiter sind hier freigestellt worden.
Unsicherheit über Freistellung in kritischer Infrastruktur
Als Unternehmen mit kritischer Infrastruktur darf auch Epizentr 50 Prozent der wehrpflichtigen Mitarbeiter von der Armee freistellen lassen. Von den 38.000 Mitarbeitern der Unternehmensgruppe sind 11.000 wehrpflichtig und etwa 2.500 freigestellt, so Scheremet. "Aber der Staat ändert ständig die Bedingungen, heute geht es, morgen dann nicht mehr."
Rund ein Viertel der Wehrpflichtigen sei mobilisiert worden. Diese beziehen weiter ihr Gehalt und haben eine Rückkehr-Garantie, falls sie die Front unverletzt überleben.
Ein Teil sei demobilisiert worden, doch nur 40 Prozent seien in der Lage, zu arbeiten. 60 Prozent bräuchten eine längere Reha und fünf Prozent kämen nicht zurück. "So sieht die trockene Statistik aus", so Scheremet.
Millionen Menschen fehlen auf dem Arbeitsmarkt
Laut UNHCR sind rund sieben Millionen Menschen außerhalb der Ukraine als Geflüchtete registriert, die meisten in Europa. Hunderttausende dienen in der ukrainischen Armee und rund sechs Millionen müssen laut ukrainischen Schätzungen in den russisch besetzten ukrainischen Gebieten leben. Darunter sind 1,5 Millionen Kinder.
Die Erwachsenen fehlen auf dem Arbeitsmarkt. Das Wirtschaftsministerium schätze, dass bis zu fünf Millionen Arbeitnehmer fehlen würden, so Jewhenija Kuznezowa vom Portal Work UA, das Arbeitgeber und Jobsuchende zusammenbringt. "Konnten Arbeitgeber sich ihre Bewerber früher auswählen, kämpfen sie jetzt um sie."
Regionale Unterschiede auf Arbeitsmarkt
Nachdem der Arbeitsmarkt nach dem russischen Großangriff praktisch eingebrochen war, gäbe es auf der Plattform inzwischen wieder rund 110.000 offene Stellen und damit etwa so viele wie vor der russischen Vollinvasion, so Kusnezowa. "Der Arbeitsmarkt scheint sich quantitativ erholt zu haben, hat sich aber geografisch und strukturell verändert."
In Frontregionen bleibe es schwierig. Zum Beispiel gäbe es in der Region Cherson nur 15 Prozent der offenen Stellen im Vergleich zur Zeit vor der russischen Großinvasion, in der Region Charkiw weniger als die Hälfte. Zudem hätten sich Unternehmen in die Westukraine verlagert, wo es nun mehr Arbeit gäbe, als vor der russischen Vollinvasion.
"Vor allem Mangel an höher qualifiziertem Personal"
Schwierig bliebe etwa die IT-Branche, so Kusnezowa. Aber auch in anderen Berufen würden Mitarbeiter gesucht: Psychologen, Ärztinnen, Orthopädie-Technikerinnen, Juristinnen oder Ökonomen.
Personalmangel herrsche überall, aber vor allem höher qualifizierte Stellen seien schwer zu besetzen. Es sei einfacher, einen Sanitäter zu finden, als eine Chirurgin. Es herrsche Mangel an qualifiziertem Personal.
Sorge, dass noch mehr Menschen die Ukraine verlassen
Der Personalmangel in der Ukraine bleibt, so die Prognose von Arbeitsmarktanalytikerin Kusnezowa. Die Sicherheitslage sei schwierig. Bleibe die von Russland systematisch zerstörte Energieversorgung so schwierig wie angenommen, könnten laut Schätzungen bis zu eine Million Menschen das Land verlassen. "Das wären vor allem die im erwerbsfähigen Alter", schätzt Kusnezowa.
Maksym Scheremet von der Einkaufskette Epizentr formuliert es so: "Die dunkelste Nacht ist vor der Morgendämmerung. Je schwieriger es jetzt ist, desto mehr glauben wir, dass es übermorgen einfacher sein wird."