Unterstützung für die Ukraine Was, wenn die Finanzhilfe ausbleibt?
Die Ukraine ist abhängig von internationaler Militärhilfe - und finanzieller Unterstützung. Welche Folgen hätte es, wenn die Partner des Landes ihre Zuwendungen deutlich reduzieren?
Andrij Stepanenko ist bei seiner Arbeit schon unter Beschuss geraten. Gott sei Dank blieb er unverletzt, erzählt er, während er in seinem weißen Polizeiwagen auf die Front bei Kupjansk zurast. Hier, nur wenige Kilometer von den russischen Stellungen entfernt, leben immer noch Zivilisten, um die sich Stepanenko und seine Kollegen unter Einsatz ihres Lebens kümmern müssen.
"Wenn nicht wir, wer dann?", fragt Stepanenko. Er wischt sich eine Träne aus dem Gesicht, als er daran denkt, wie er seine eigene Mutter aus einem dieser Dörfer in Sicherheit bringen musste. "Die Menschen brauchen Hilfe", sagt er.
Polizisten wie Andrij Stepanenko halten auch im Frontgebiet weiter die Ordnung aufrecht. Das ist nur dank der Finanzhilfen aus dem Westen möglich.
Renten und Sozialleistungen dank westlicher Gelder
Umgerechnet etwa 660 Euro verdient der Polizist im ostukrainischen Frontgebiet. Dass er und seine Kollegen die staatliche Ordnung selbst in diesen Regionen noch aufrechterhalten können, ist den Milliardenhilfen aus dem Westen zu verdanken. Sie ermöglichen es der Ukraine, ihre eigenen Staatseinnahmen größtenteils für die Finanzierung des Militärs zu nutzen. Die Staatsausgaben für Renten, Sozialleistungen und Beamtengehälter werden aktuell durch westliche Finanzhilfen gedeckt.
"Ohne die Polizei wäre hier komplettes Chaos", befindet Dmytro Tolstoho, Dorfvorsteher in Kindraschiwka, etwa fünf Kilometer von der Front in der Ostukraine entfernt. Er steht vor einem zerstörten Haus und zieht an seiner Zigarette. Es sei einmal ein gutes Dorf gewesen, sagt Tolstoho. Aber von etwa 1.000 Einwohnern seien nur noch etwa 250 geblieben. "Heute ist die Situation eher ruhig", fügt er hinzu, während im Hintergrund die Artillerie donnert.
Einigt sich die EU auf weitere Hilfen?
In Brüssel beraten die Mitgliedsstaaten der EU heute über 50 Milliarden Dollar Makrofinanzhilfe. Es ist Geld, das die Ukraine dringend benötigt und das eigentlich schon Anfang des Jahres hätte kommen sollen. Sollten die Hilfen nicht rechtzeitig kommen, stünde die Ukraine zumindest nicht vor einem Staatsbankrott, beruhigt Hlib Vyshlinsky, Direktor des Zentrums für Wirtschaftsstrategie.
"Die Ukraine wäre dann nicht in der Lage, Beamtengehälter oder Sold zu zahlen", erklärt Vyshlinsky. Reicht die Hilfe aus dem Westen nicht aus oder kommt zu spät, müsse die Nationalbank beginnen, Geld zu drucken. "Das geht immer schlecht aus", meint der Finanzanalyst Serhij Fursa. Eine Abwertung der Währung und ein hoher Anstieg der Inflation wären die Folgen.
Doch so weit soll es gar nicht erst kommen. Die Ukraine könne noch einige Wochen überbrücken, bis wieder Geld aus dem Ausland kommen muss, sagt der stellvertretende Finanzminister Oleksandr Kawa. Er sei zuversichtlich, dass die Milliarden aus der EU bewilligt werden - trotz der anfänglichen Blockade von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban. "Außerdem arbeiten wir parallel mit dem IWF, der Weltbank und anderen westlichen Ländern zusammen, die die Ukraine unterstützen. Wir sind davon überzeugt, dass die Situation gelöst wird", sagt Kawa.
Hilfe allein aus der EU reicht nicht
37 Milliarden Dollar groß ist das Haushaltsdefizit der Ukraine in diesem Jahr - eine Summe, die alleine aus der EU nicht finanziert werden kann. Die Ukraine verhandelt daher auch mit anderen Partnerländern über weitere Finanzhilfen. Etwa elf Milliarden Dollar sollen aus den USA kommen. Doch auch dort streiten Politiker über weitere Unterstützung für die Ukraine.
"Wir haben ein viel größeres Problem mit den USA als mit der EU", sagt Vyshlinsky vom Zentrum für Wirtschaftsstrategie. "In der EU hat die Mehrheit der Mitgliedsstaaten Verständnis für unsere Situation. In den USA ist die Ukraine in den Strudel der Innenpolitik hineingezogen worden." Während man dieses Jahr noch überbrücken könne, könnten sich die Probleme im nächsten Jahr verschärfen, meint Vyshlinsky.
Von Hilfen abhängig
Die Ukraine hat nur wenige Optionen. Geld drucken oder Anleihen verkaufen - beides würde die Probleme des Landes nicht lösen. "Der Krieg ist teuer", sagt Serhij Fursa. In diesem Jahr muss das Land Tausende Soldaten einziehen, ausbilden und ausrüsten, um sich weiterhin gegen die russischen Angriffe stemmen zu können. Wie viel die Mobilisierung kosten wird, ist aktuell noch nicht abzusehen.
Gleichzeitig zerstöre Russland gezielt Industrie- und Produktionsstätten. Um ein Drittel sei das ukrainische Bruttoinlandsprodukt seit Beginn des russischen Angriffskriegs zurückgegangen, gibt das Finanzministerium an. Um einen Zusammenbruch des Staates zu verhindern, könnte die Ukraine theoretisch weniger Geld in die Verteidigung geben. Der stellvertretende Finanzminister Oleksandr Kawa widerspricht: "Die Verteidigung hat Priorität."
Solange der Krieg laufe, sei die Ukraine abhängig von westlichen Finanzhilfen, meint auch Finanzexperte Fursa. "Wir können diese Abhängigkeit vielleicht ein wenig reduzieren, aber das ändert nichts an der Gesamtsituation."
Umso wichtiger ist für die Ukraine die Unterstützung aus Brüssel. Andrij Stepanenko in der Ostukraine vertraut auf den ukrainischen Staat und hofft auf weitere westliche Unterstützung. Auch wenn der Staat einmal nicht pünktlich sein Gehalt auszahlen könne, will der Polizist weiterarbeiten: "Jedes Leben ist wichtig. Wir arbeiten, damit es Leben in der Stadt gibt."