Kollaboration im Krieg Tiefes Misstrauen unter Ukrainern
Als die russischen Besatzer kamen, standen viele Ukrainer vor der Wahl: Gehen - oder bleiben und sich mit den Russen arrangieren. Viele verließen ihr Zuhause, aber manche machten gemeinsame Sache mit den Angreifern.
In einem schmucklosen Keller arbeitet Dmitrij Nowizkij. Er ist Polizist in Kupjansk im Osten der Ukraine. Gemeinsam mit seinen Kollegen klärt er Verbrechen auf, untersucht Raketeneinschläge und versucht, Plündereien zu verhindern. Aber eine Aufgabe ist für Nowizkij besonders wichtig: Kollaborateure ausfindig zu machen.
"Wir wissen, dass es hier noch viele Kollaborateure gibt. Einige sind in die Westukraine oder andere Regionen gegangen. Wir arbeiten daran - und auch unsere Belegschaft wurde erneuert. Junge Kollegen aus anderen Bereichen, wir sind arbeitsfähig. Solange es die Möglichkeiten gibt, werden wir in diesem Bereich ermitteln. Früher oder später wird jeder für seine Taten geradestehen müssen", meint Nowizkij.
Kupjansk liegt nur wenige Kilometer von der Front entfernt. Ein halbes Jahr war die Stadt unter russischer Besatzung, dann konnten die ukrainischen Truppen sie zurückerobern. Auch mit Dmitry Nowizkijs Hilfe. Der Polizist hat wichtige Informationen für die ukrainischen Truppen gesammelt - eine lebensgefährliche Aufgabe.
"Es gab viele Kollaborateure unter meinen Kollegen. Sie haben die Seiten gewechselt und begonnen uns zu verraten", erzählt der Polizist. "Sie wussten, wo wir wohnen, unsere Daten, wo wir uns aufhalten, welche Autos wir fahren. Sie haben den Russen gezeigt, wen und wo sie suchen mussten."
Gemeinsame Sache mit dem Feind
Kupjansk ist kein Einzelfall. Der Krieg gegen die Ukraine ist auch eine Geschichte der Kollaboration. Besonders bekannt ist der Fall Cherson im Süden des Landes. Hier waren es zum Teil Beamte des Inlandsgeheimdienstes SBU, die unter Verdacht stehen, für Russland gearbeitet und so ein schnelles Vorrücken der Angreifer ermöglicht zu haben.
Heute jagt die Ukraine Kollaborateure in den befreiten Gebieten - und hat dabei ein Problem, erklärt Oleksandr Pawlitschenko von der Helsinki Gruppe für Menschenrechte: "Die Praxis zeigt: Die größten Kollaborateure fliehen. Also diejenigen, die Führungspositionen in der Verwaltung, der Polizei, der Justiz oder Bildung innehatten." Sie würden nach Russland gehen und dort hohe Geldsummen und Wohnungen erhalten, erklärt Pawlitschenko. Sie festzunehmen sei dann nicht mehr möglich. "Zurück bleiben kleine Mitläufer. Ihre Rolle und das Ausmaß der Verbrechen sind unbedeutend, aber natürlich standen sie diesem Regime bei."
Schraffiert: von Russland besetzte Gebiete
"Tief in ihren Herzen warten sie auf die Russen"
In seinem Büro im ostukrainischen Isjum zeigt Lokaljournalist Kostjantyn Hryhorenko die jüngste Ausgabe seiner Zeitung. Prozesse gegen Kollaborateure sind ein wichtiges Thema für Hryhorenko. Er floh vor den russischen Truppen, denn er fürchtete als Journalist um sein Leben.
Die Besatzung habe bis heute Spuren in der Stadt hinterlassen, sagt Hryhorenko: "Zwischen den Menschen, die unter der Besatzung waren und denjenigen, die danach zurückgekehrt sind, entstand ein Riss. Und den gibt es bis heute. Ich kenne viele Leute, die kollaboriert und mit den Besatzern zusammengearbeitet haben. Ich traue diesen Leuten nicht. Sie sind immer noch in der Stadt, laufen frei auf den Straßen herum. Und haben ihre Einstellung nicht geändert."
Gegenseitiges Misstrauen und Vorwürfe prägen die von russischer Herrschaft befreiten Gebiete. Viele Rückkehrer verdächtigen diejenigen, die blieben, der Kollaboration. Anders herum heißt es: Wer die Besatzung nicht erlebt habe, solle sich kein Urteil bilden, wie man es geschafft habe zu überleben. Auch der Bürgermeister von Isjum floh vor den russischen Truppen - manche bezeichnen ihn deswegen als Verräter.
Walerij Martschenko kann einem Teil der Bevölkerung nicht vertrauen, sagt er: "Nein. Es gibt einen Teil der Leute, die kollaboriert haben. Wir waren fast sechs Monate besetzt und sie haben mit den Russen zusammengearbeitet. Ich glaube, sie warten immer noch auf ihre Rückkehr." Die Menschen verhielten sich jetzt anders, damit sie keine Probleme bekommen. Sie positionierten sich nun für die Ukraine und unterstützten ihre Streitkräfte, erzählt der Bürgermeister. "Aber ich glaube, tief in ihren Herzen warten sie auf die Russen."
Vom Helfer zum Angeklagten
Schon im März 2022 - nur wenige Wochen nach Beginn des russischen Angriffskrieges - erlässt die ukrainische Regierung ein Gesetz zur strafrechtlichen Verfolgung von Kollaborateuren. Das aber sei viel zu weit gefasst, kritisieren Menschenrechtler wie Oleksandr Pawlitschenko. Daher sei es für Richter ein Problem.
Pawlitschenko gibt ein Beispiel aus einem besetzten Dorf in der Region Cherson im Süden der Ukraine: "Im Dorf leben noch Menschen und die Besatzer bringen humanitäre Hilfe, Lebensmittel und Hygieneartikel. Sie gehen nicht von Tür zu Tür und verteilen die Lebensmittel, sondern fragen nach der Verwaltung des Dorfes. Man nennt ihnen eine Frau, die früher im Dorfrat war. Ihr werden die Lebensmittel überlassen und sie verteilt sie an die Dorfbewohner."
Nach ukrainischer Gesetzgebung könnte die Frau wegen Zusammenarbeit mit dem Besatzungsregime angeklagt werden. Das Vorgehen stößt auf Kritik.
Keine andere Wahl
Szenenwechsel: Eine zugemüllte Wohnung in einem mehrstöckigen Gebäude in Isjum. Hier lebt Serhii Kriworotow. Er hat während der Besatzung bei der Post gearbeitet - etabliert von den russischen Sicherheitsdiensten. "Wenn die Leute nicht gearbeitet hätten...", setzt Kriworotow an. "Wir waren ja nicht die einzigen. Wir wollten nicht nur Geld verdienen, wir leben ja hier. Wohin mit all dem Müll? Er lockt Ratten an, die kommen in die Häuser und Keller."
Ob Post, Müllabfuhr oder Schule - wer unter dem Besatzungsregime gearbeitet hat, macht sich für Journalist Kostjantyn Hryhorenko verdächtig. Das Misstrauen untereinander ist bis heute groß. Nur Zeit und eine faire Gesetzgebung könne helfen, das Trauma zu überwinden, meint Bürgermeister Martschenko.