Krieg gegen die Ukraine Kein Tag ohne Luftalarm
Seit fast einem Jahr bestimmen Luftalarme den Alltag der Ukrainer im Krieg. Eine WDR-Datenanalyse von mehr als 30.000 Alarmen zeigt, wie die Bedrohung zum Dauerzustand geworden ist.
Es ist 01:30 Uhr nachts, als der Alarm startet. "Luftalarm in der Stadt Kiew. Gehen Sie in Schutzräume", steht in der kurzen Nachricht. Es ist der 16. März 2022, drei Wochen nach Kriegsbeginn. Die ukrainischen Behörden warnen seit kurzem auch über eine App, ein Telegram-Kanal verbreitet die Warnungen als Chat-Nachrichten.
Ein roter Punkt am Anfang der Nachricht bedeutet: Deckung suchen, abwarten. Vier Stunden und acht Minuten später eine weitere Nachricht, diesmal mit einem grünen Punkt: "Entwarnung Luftalarm in der Stadt Kiew". Es ist 05:41 morgens. Sieben weitere Benachrichtigungen werden noch folgen. Kiew wird an diesem Tag von mehreren Explosionen erschüttert.
Eine WDR-Datenanalyse des Telegram-Kanals zeigt: Zwischen der ersten Warnmeldung am 15. März 2022 und Ende Januar 2023 gab es in der Ukraine keinen einzigen Tag ohne Luftalarm. Mal gilt der Alarm für ganze Regionen, manchmal für einzelne Städte. Insgesamt mehr als 18.000 Nachrichten mit rotem Punkt, ebenso viele mit grünem Punkt.
Die Telegram-Nutzerinnen und Nutzer reagieren mit Emojis: gebrochene Herzen und wütende Gesichter bei Alarm, Friedenstauben und Herzchen bei Entwarnung. Der Telegram-Kanal dokumentiert den Dauerzustand der Bedrohung.
Mit dem Notkoffer in den Schutzraum
So gab es etwa in der Hauptstadt Kiew zwischen Mitte März 2022 und Ende Januar 2023 an 220 Tagen Warnungen vor Luftangriffen oder Artilleriebeschuss. Jedes Mal mit der Aufforderung, Deckung zu suchen.
"Schnell ankleiden, den bereitgestellten Notkoffer mit den nötigsten Sachen und Dokumenten nehmen und in den Schutzraum gehen", so beschreibt ARD-Ukraine-Korrespondentin Andrea Beer das empfohlene Verhalten bei Luftalarm.
Diese Möglichkeit hätten aber nicht alle: "Auf dem Land haben viele keinen Keller und es gibt keine Schutzräume in der Nähe. Vor allem nicht mobile Alte oder Menschen mit Behinderung müssen oft einfach hoffen, dass nichts passiert."
Oft helfe es noch, sich im Badezimmer zu verstecken, oder hinter Bäumen. Nicht jeder Luftalarm bedeutet Luftangriff, aber jeder könnte einer sein. Die Nachrichten mit rotem Punkt bedeuten Lebensgefahr.
Alarme zu jeder Tages- und Nachtzeit
Die Warnmeldungen kommen zu jeder Tages- und Nachtzeit, häufiger aber zwischen 21 und 0 Uhr oder am Vormittag und um die Mittagszeit. "Die täglichen Pläne geraten durcheinander. Es ist damit auch schwierig, die Gegenwart und nahe Zukunft zu planen. Das löst Angst und Stress aus", sagt Beer. Die Folge von dauerhaftem Alarm sei Erschöpfung.
Im Durchschnitt dauert es eine Stunde, bis der Alarm wieder aufgehoben wird, manchmal aber auch vier oder noch mehr Stunden. Würde man all die Alarme in Kiew zusammenzählen, käme man auf 570 Stunden, oder 23 Tage, durchgängigen Alarm.
In Kiew ist im März 2022 die Frequenz der Alarme am höchsten: Im Schnitt wird sechs Mal pro Tag gewarnt. Im Laufe des Frühjahrs und des Sommers sinkt die Frequenz. Bis Oktober - dann startet Russland systematische Angriffe auf die zivile Infrastruktur und die Tage, an denen gewarnt wird, werden in diesem Monat wieder mehr.
Zahl der Orte mit Luftalarm wird kleiner
Die Analyse der Warnmeldungen zeigt, wie sich die Bedrohungslage im Laufe der Zeit verändert: Die Anzahl der Orte, für die Luftalarm ausgerufen wird, sinkt von 145 im März auf 31 im November 2022.
Nachdem der russische Vormarsch auf Kiew ins Stocken geraten ist und sich die russische Armee in den ersten Aprilwochen aus dem Norden des Landes zurückgezogen hat, konzentriert sich ab Sommer 2022 das Kriegsgeschehen vermehrt auf den Osten und Südosten des Landes. Anders als in Kiew bleibt die Anzahl an Tagen mit Luftalarm in den östlichen Regionen durchgehend hoch.
Keine Atempause für die Ostukraine
Entsprechend gibt es im Osten an wesentlich mehr Tagen Luftalarm als etwa in Kiew. So ist in der Region Charkiw zwischen Mitte März und Ende Januar an insgesamt 318 Tagen Luftalarm. Nur an fünf Tagen wurde nicht gewarnt.
In dieser Region gibt es auch am meisten Alarme: insgesamt 1572 in den elf Monaten. Ähnlich sieht es in den Regionen Dnipropetrowsk, Donezk und Saporischschja aus.
Die Warnmeldungen sind ein Stück weit entkoppelt von den Frontverläufen und somit ein Indikator für die tatsächliche Bedrohungslage für die Bevölkerung. So ist etwa für die Region Charkiw noch im Januar an 30 Tagen Luftalarm dokumentiert, obwohl die Region seit September bereits in großen Teilen wieder zurückerobert worden war.
Kurze Vorwarnzeit in Charkiw
Dass die Region Charkiw insgesamt stärker betroffen ist, zeigt sich auch daran, dass der Alarm dort, anders als in Kiew, im Durchschnitt vier bis fünf Mal pro Tag geht. Wenn man alle Luftalarme für die Region Charkiw zusammenzählen würde, käme man auf 1374 Stunden oder 57 Tage durchgängigen Luftalarm.
Die Nähe zu Russland habe zudem Einfluss auf den Faktor Zeit, sagt ARD-Korrespondentin Beer. So liegt die Stadt Charkiw nur 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. "Hier haben die Menschen bei einem Luftalarm nur weniger als eine Minute Zeit, einen Schutzraum zu suchen."
Für die Analyse hat das Team des WDR mehr als 35.0000 behördliche Luftalarm-Meldungen, die über den Telegram-Kanal @air_alert_ua verbreitet werden, erhoben und analysiert. Beim Vergleich der Regionen wurden nur Warnungen gezählt, die sich auf die jeweils ganze Region beziehen. Neben den regionalen Warnungen gab es in einzelnen Städten oder kleineren Gebieten stellenweise weitere Warnungen. Vor Artilleriebeschuss - oft der Grund für die Zerstörung vieler Orte - wird nur in wenigen Fällen gewarnt, im Kanal sind etwa 400 Warnungen dokumentiert. Für die Regionen Luhansk und Krim liegen aufgrund der russischen Annexion keine Daten vor. Ebenso können die Daten für Cherson unvollständig sein, da diese Region ab März bis etwa September unter russischer Kontrolle stand.
Der Schrecken wird Teil des Alltags
Der Umgang mit Luftalarmen habe sich im Laufe des Jahres aber in der gesamten Ukraine verändert, sagt Beer. Durchschnittlich 114 Mal pro Tag ploppt eine Nachricht im Telegram-Kanal auf, auch nach über 350 Tagen Krieg. "Am Anfang hatten viele Menschen Angst. Sie rannten in die Schutzräume und nahmen den Alarm sehr ernst. Mit der Zeit hat das nachgelassen."
So komme es immer wieder vor, dass Menschen beim Autofahren oder auf der Straße durch russische Raketen- oder Drohnenangriffe getötet würden. Einige würden den Luftalarm einfach nicht mehr beachten. "In gewisser Weise ist der Luftalarm für viele traurige Routine geworden."
Zu diesem Thema sehen Sie auch die Dokumentation "Ukraine - Krieg im Leben" von Vassili Golod und Ulrike Brincker - heute um 20.15 Uhr im Ersten und schon jetzt in der ARD-Mediathek.