Jahrespressekonferenz in Kiew Selenskyj sieht Mobilmachung als heikle Frage
Stockende Finanzhilfen und kaum Vorankommen bei der Gegenoffensive: Für die Ukraine ist die Lage zum Jahresende nicht leicht. Trotzdem zeigt sich Präsident Selenskyj zuversichtlich, die Armee plane die Mobilmachung Hunderttausender neuer Soldaten.
"Ein schwieriges Jahr gehe zu Ende", sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf seiner Jahrespressekonferenz in Kiew. Rund zwei Stunden beantwortete er Fragen von mehreren hundert Journalisten. Mehrmals wurde Selenskyj nach seiner Einschätzung der militärischen Lage gefragt. Über die Pläne für 2024 wollte er nichts sagen, denn die Gegenoffensive im vergangenen Sommer sei zu sehr zerredet worden. Derzeit wird in der Ukraine allerdings intensiv über neue Gesetzte zur Mobilmachung diskutiert.
Nach Worten von Selensky hat die ukrainische Armee um die Mobilisierung von Hunderttausenden Ukrainern für den Kampf gegen Russland gebeten. Die Vorbereitung neuer Soldaten sei für die Ukraine aber eine teure und politisch heikle Frage, sagte Selenskyj.
Demnach habe die Militärspitze "450.000 bis 500.000" neue Soldaten angefordert. Eine zusätzliche Mobilmachung in diesem Umfang erfordere etwa 500 Milliarden Hrywnja (12,2 Milliarden Euro), so der Präsident. Eine endgültige Entscheidung sei aber noch nicht gefallen, zunächst werde sich das Parlament mit der Sache befassen. "Denn erstens ist es eine Frage von Menschen, zweitens ist es eine Frage der Fairness, es ist eine Frage der Verteidigungsfähigkeit und es ist eine Frage der Finanzen", erklärte Selenskyj.
Erholung für bisher kämpfende Soldaten
Die zusätzlichen Kräfte könnten nicht nur die Schlagkraft der Armee erhöhen, sondern es den bisher kämpfenden Soldaten auch ermöglichen, ein Recht auf Erholung und Heimaturlaub zu bekommen. Dies sei ihm wichtig, betonte der ukrainische Präsident. Es werde zu diesem Zweck ein komplexer Plan für eine mögliche Rotation ausgearbeitet.
Im gleichen Zuge wies Selenskyj die Einschätzung zurück, dass der Krieg sich zu einem Patt entwickelt habe. Russland habe 2023 keines seiner Kriegsziele in der Ukraine erreicht, sagte er. Moskau habe das ukrainische Gebiet Donezk nicht komplett erobern können. Stattdessen habe die Ukraine die Kontrolle über das westliche Schwarze Meer weitgehend wieder hergestellt.
Die Ukraine hat nach ihrer Gegenoffensive in den vergangenen Monaten allerdings kaum nennenswerte Fortschritte gegen die tief eingegrabenen russischen Einheiten vorzuweisen.
Weitere Unterstützung für die Ukraine
Ungeachtet aktuell stockender westlicher Hilfen zeigte sich der ukrainische Präsident zuversichtlich, dass sowohl die USA als auch die EU das von Russland angegriffene Land künftig weiter unterstützen. "Ich bin überzeugt davon, dass die USA uns nicht verraten werden", sagte er.
Seine jüngsten Reisen seien erfolgreich gewesen: Der Staatschef kündigte an, dass die Ukraine mehr "Patriot"-Luftabwehrsysteme erhalten werde. "Mehrere neue 'Patriot'-Systeme werden in der Ukraine sein, um unser Land im Winter zu schützen", sagte Selenskyj. Die Waffenlieferungen seien ein "sehr wichtiges Ergebnis" seiner jüngsten Reisen ins Ausland.
Auch mit Blick auf ein derzeit von Ungarn blockiertes EU-Finanzpaket in Höhe von 50 Milliarden Euro zeigte sich Selenskyj optimistisch: "Es werden sich Mittel finden, diese 50 Milliarden zu erhalten." Er wolle in dieser Sache selbst mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban sprechen, sagte der ukrainische Präsident.
Selenskyj war zuletzt in mehreren westlichen Ländern unterwegs, darunter in den USA, um für weitere militärische und politische Unterstützung für die Ukraine zu werben. Kiew fordert derzeit zusätzliche Waffenlieferungen von seinen westlichen Verbündeten, die sich jedoch zunehmend zurückhaltend zeigen.
Der Krieg dauert an
Die Möglichkeit von Verhandlungen mit Russland wies Selenskyj zurück. Er sehe keine Bitte um Verhandlungen von Moskau und sehe dergleichen auch nicht im Handeln Russlands. "Ich sehe nur Arroganz und Mord in ihrer Rhetorik."
Nicht bestätigen wollte Selenskyj derweil Prognosen, dass der Krieg in seinem Land noch lange andauern werde. "Ich denke, das weiß niemand." Die Dauer des Kriegs hänge von vielen Faktoren ab, fügte er hinzu - insbesondere von den Ukrainern selbst. "Wenn wir unsere Widerstandsfähigkeit nicht verlieren, werden wir den Krieg eher beenden."
Mit Informationen von Andrea Beer, ARD-Studio Kiew