Ein ukrainischer Soldat gestikuliert vor einer Haubitze an der Front in der Region Saporischschja
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Misserfolge in der Offensive Die vielen Kämpfe der Ukraine

Stand: 18.11.2023 06:55 Uhr

Die ukrainische Offensive hat ihre Ziele deutlich verfehlt. Die politische Führung in Kiew zeigt sich selbstkritisch und formuliert klare Erwartungen an das Militär. Was jetzt Erfolge bringen soll.

Eine Analyse von Vassili Golod, ARD Kiew

Vor Erleichterung weinend fallen die Bewohner der Stadt Cherson ukrainischen Soldaten in die Arme - ein Jahr ist es her, dass das ukrainische Militär Cherson aus der russischen Besatzung befreien konnte. Es war die Hoffnung auf diese Emotionen, die Präsident Wolodymyr Selenskyj bei vielen schürte, als er 2023 zum "Jahr der Rückkehr" ausrief.

Heute ist klar: Diese Erwartungen konnten nicht ansatzweise erfüllt werden.

Die ukrainische Offensive blieb ohne durchschlagenden Erfolg. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Im Westen wurde viel und lange diskutiert. Ob, welche und wie viele Waffen geliefert werden können. Auf Zusagen folgten keine sofortigen Lieferungen.

Fakt ist: Das gab Russland ausreichend Zeit, eigene Stellungen auszubauen, massive Minenfelder anzulegen. Die Erwartungen an die ukrainische Offensive waren nach Ansicht vieler Militärexperten überhöht.

Grundlegende Meinungsverschiedenheiten

Fakt ist auch: Die Ukraine selbst hat eindeutig mehr erwartet. Daraus macht niemand mehr ein Geheimnis. Walerij Saluschnyj, Oberkommandierender der ukrainischen Streitkräfte, gesteht in einem viel diskutierten Beitrag für den britischen "Economist" Fehler ein, spricht von einem drohenden Patt und zieht Vergleiche zum Ersten Weltkrieg.

Doch über den öffentlichen Umgang mit den eigenen Fehlern gibt es grundlegende Meinungsverschiedenheiten. Saluschnyj hat mit seinem Text Verärgerung bei der politischen Führung ausgelöst.

Im Ziel sind sich Selenskyj, Saluschnyj und die große Mehrheit ihrer Landsleute einig: Die Ukraine kämpft um die Rückkehr zu ihren international anerkannten Staatsgrenzen von 1991, einschließlich Krim und Donbass.

Umso erstaunter soll der Präsident gewesen sein, als er den Beitrag seines wichtigsten Militärs las. Der Inhalt war offenbar nicht abgesprochen. Besonders durch den Vergleich mit dem Ersten Weltkrieg sehen sie im Präsidialamt ihre politischen Bemühungen torpediert.

Top-Militärs sollen ausgetauscht werden

Während Saluschnyj den Westen mit seiner nüchternen militärischen Analyse wohl aufrütteln und zu mehr Waffenlieferungen bewegen wollte, fürchtet die politische Führung um Selenskyj aufgrund der Art der Kommunikation das genaue Gegenteil.

Deshalb drängt Selenskyj darauf, die Ukraine wieder in eine Position der Stärke zu bringen - an der Front und in der öffentlichen Kommunikation. Auch deshalb wurde Saluschnyj, der lange als unantastbar galt, vom Präsidialamt öffentlich zurechtgewiesen.

Die Botschaft: Niemand ist unantastbar. Es gibt Überlegungen Top-Militärs, darunter auch Generäle, auszutauschen. Die Menschen in der Ukraine sollen sehen, dass Entscheidungsträger zur Verantwortung gezogen werden. Die Partner im Westen sollen sehen, dass man die langsamen Entwicklungen an der Front nicht nur auf sie abwälzt.

Vertrauen in Selenskyj lässt nach

Doch auch der Präsident steht zunehmend in der öffentlichen Kritik. Das Vertrauen der ukrainischen Bevölkerung in Selenskyj ist zwar noch immer hoch, aber in den vergangenen Monaten von 91 Prozent auf 76 Prozent gesunken.

Häufige Vorwürfe sind neben den ausbleibenden militärischen Erfolgen auch seine mangelnde Kritikfähigkeit. Das Vertrauen in die ukrainischen Streitkräfte liegt konstant bei mehr als 90 Prozent.

Kampf um Aufmerksamkeit - und Unterstützung

In der Ukraine ist allen bewusst: Ohne Hilfe aus dem Westen wird das Land im zermürbenden Abnutzungskrieg gegen Russland nicht bestehen können. Zwar wurde die eigene Rüstungsproduktion massiv hochgefahren, soll immer mehr Drohnen und Munition produzieren.

Doch weil Russland über viel mehr Waffen und Menschen verfügt und sich zudem auf Waffenlieferungen aus Nordkorea und Iran verlassen kann, braucht auch die Ukraine verlässliche Unterstützung aus der EU und den USA.

“Die Lieferungen an uns sind zurückgegangen”, sagte Präsident Selenskyj in dieser Woche bei einem Treffen mit Journalisten, bei dem auch die ARD vertreten war. Selenskyj spricht von einer direkten Folge aus dem Krieg im Nahen Osten.

Die Lieferungen hätten sich verlangsamt, weil jeder Staat seine eigenen Munitionsvorräte im Blick behalten müsse. Er sieht jedoch Bemühungen im Westen die eigenen Produktionskapazitäten zu erhöhen.

Die Hoffnung auf "Taurus"

Auch deshalb hat sich der Ton verändert. Im Januar warf Selenskyj Bundeskanzler Olaf Scholz im ARD-Exklusiv-Interview noch fehlenden politischen Willen vor.

Heute spricht Selenskyj von einem vertrauensvollen Verhältnis zu Scholz und den besten Beziehungen in der gemeinsamen Geschichte beider Staaten. Und das, obwohl der Kanzler sich gegen die Lieferung von "Taurus"-Marschflugkörpern stellt. 

Die Raketen haben eine weitere Reichweite und könnten der Ukraine militärisch dabei helfen, die russisch besetzte Krim vom Nachschub zu trennen. Im Hintergrund versucht die ukrainische Führung die Bundesregierung von einer Lieferung zu überzeugen.

Öffentlich bleibt es bei Danksagungen. In der aktuellen Lage kann es sich die Ukraine nicht erlauben, die guten Beziehungen mit ihrem zweitgrößten Unterstützer zu gefährden.

Das Ziel: Eine Position der Stärke

Mehr als 630 Tage nach Beginn des russischen Angriffskrieg scheint die ukrainische Führung einen nüchternen Blick auf die eigenen militärischen Optionen zu haben. Von einer schnellen militärischen Rückeroberung aller russisch besetzten Gebiete spricht in Kiew niemand mehr.

Stolz zeigt man sich mit Blick auf die militärischen Erfolge auf der Krim. Durch das Zurückdrängen der russischen Schwarzmeerflotte konnten nach ukrainischen Angaben 151 Frachter den temporären Korridor auf dem Schwarzen Meer nutzen.

Die Ukraine braucht weitere militärische Erfolge. Das würde nach einem schweren Jahr nicht nur die eigene Moral stärken, sondern das Land in eine Position der politischen Stärke bringen, so die Hoffnung im Präsidialamt.

Nur aus einer solchen Position heraus scheint auch der Gedanke über mögliche Verhandlungen nicht mehr ausgeschlossen.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete MDR aktuell am 18. November 2023 um 07:17 Uhr.